Weihnachten

Mit einem Regionalzug fahre ich über die Weihnachtsfeiertage zu meinen Eltern. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, ihnen von meinen Experimenten zu erzählen, sie vielleicht in die Experimente einzubeziehen? "Sowas kommt mir nicht ins Haus!“ - „Das kannst du bei dir machen!“ Mutter wird das übertrieben empört, kalt, aber lieb sagen, Vater eher böse, dumm, aggressiv. Ich seh mich an der gegenüberliegenden Fensterscheibe, ein kleiner Junge, der aus dem Internat zu seinen Eltern fährt. Vielleicht hat meine Familie schon vor Jahren den emotionalen Bezug zu mir verloren wie ich zu ihnen. Die Bahnsicherheit und die Kontrolleurin kommt vorbei, ich schaue sie kurz und unverdächtig an, ich weiß genau dass ich so wirke als hätte ich nichts zu verstecken. Am Bahnhof setze ich mich auch direkt neben drei Polizisten, die einen Afrikaner kontrollieren. Ich stell mir vor, wie ich sie frech und niedlich von der Seite anquake, wie ein tollpatschig-selbstbewusstes Kind mit bunter Propeller-Mütze: „Haben Sie noch einen emotionalen Bezug zu Ihrer Familie?“ Die Bahnfahrt macht Spaß, freundlich ziehen die grünen und grauen Landschaften vorbei, Thüringer Hochglanz-Tristesse. Die Landschaft freut sich wie ein Affe im Käfig, dass Besucher vorbeifahren. Wir sperren Euch ein, damit Andere sehen, dass es Euch mal draußen gegeben hat. Allen deine Existenz zeigen: erster und letzter Sinn deines Daseins. Ich schreibe nur, wenn ich was zu sagen habe. Schreibe ich auf, was ich denke, oder tu ich nur so, als würde ich es denken, weil ich mir vielleicht wünsche, so zu denken und zu fühlen? WOHIN? Die Unsicherheit ist gemütlich und erregend.

Gera hat ein paar schöne Ecken und einen gewaltigen Leerstand. Eine selbstbewusste, maskuline Punkerbraut kommt rein und ich denke, dass gerade Bisexuelle ein Gefallen an maskulinen Frauen und femininen Männern finden, weil beide Beides bedienen. Ich schaue aus dem Fenster und finde die Konstrukte Mann und Frau furchtbar. Vielleicht ist es bald lächerlich, sich einem Geschlecht anzupassen. In Ronneburg liegt jedenfalls der Hund begraben, viele Kilometer tief. Eine süße, durchschnittliche Stadt, die so ausschaut wie ein überfreundlicher Streber in der Schule, der heute mal nicht vermöbelt wird, weil die Schulleiterin danebensteht. Offensive gegen Mobbing. Oder: Ronneburg sieht einfach nur geduldet aus wie ein sabbernder Rollstuhlfahrer, der gern Pornos schaut. Der Mann, der die Nächster-Halt-Durchsagen macht, klingt so als würde er sich freuen, zu Weihnachten bei der Familie zu sein. In 13 Minuten muss ich umsteigen. „Dinge sind nicht von Natur aus illegal, sie werden von fetten, extrem reichen Männern für illegal erklärt.“, könnte ich meinen Eltern sagen. Was werde ich überhaupt bei denen machen? Mutter sagt, sie würde sich sehr freuen, wenn ich vorbeikomme. Aber was wollen wir alle miteinander anfangen? Immer wenn ich zu Besuch bei den Eltern bin, geht es strenger zu als wenn sie zu Besuch bei mir sind. Ich überlege, ob mich der graue Himmel traurig macht. Eigentlich geht uns der Himmel gar nichts an. Er ist nur ein Nachbar, der seine Privatsphäre haben will, er hat sich nicht freiwillig hier neben uns angesiedelt, er ist uns eh allen fürchterlich überlegen.

Erster Weihnachtsfeiertag. Mir ist das Gästesofa unbequem, also schlaf ich auf dem Boden. Ich darf nicht auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen, „weil das kein Schlafsofa ist“. Was für ein seltsames, böses, steriles und letztlich unlogisches Prinzip. Eine lieblose Diskussion darüber verdüstert den Frühstückstisch. Ich verzieh mich kurz nach oben und nehm etwas Cannabis. Meine Eltern sind lieblose, genervte Ossis, die mitten im Leben stehen. Wir haben uns nur Oberflächlichkeiten zu sagen und im Radio und Fernsehen ist wirklich die Hölle los und ich muss sie dulden. Meine Eltern wollen, dass ich mich in diese kleine, düstere, funktionale, lieblose Welt einfüge, von der sie körperlich und psychisch abhängig sind. Ich kann nur hilflos daneben stehen und hoffen, dass ich nicht arrogant wirke. Ich setze mich eine halbe Stunde auf den Badewannenrand und halte einen Heulkrampf in Zaum.

Heute nachmittag kommt die Mutter des Vaters. Ich soll mir meinen Sitzplatz aussuchen. Ich will nicht hinten in der Ecke sitzen und sage übertrieben theatralisch: „Ich will nicht so eingequetscht sein in der Ecke“.und etwas später „Jeder Platz ist einengend“ und meine damit: „Jeder Glaube ist einengend.“ Rechtfertigungen engen das ein, was man rechtfertigt. Ich bin traurig, dass wir keinen emotionalen Bezug zueinander haben. Die Eltern sind die Ersten, zu denen man aufschaut. Heute glaub ich, sie mögen mich nichtmal. Oma schaut mich jedenfalls nicht so häufig an wie ich sie... 15 zu 1. Sie sieht noch genau so aus wie früher und redet und verhält sich so. Ich habe sie schon immer gemocht. Der Stiefopa fühlt sich bestimmt unwohl, er weiß dass er den richtigen Opa nicht ersetzen kann und versucht es auch gar nicht. Alle reden sehr laut und kalt und lieblos miteinander, aber das kann auch einfach nur das Temperament des Bergvolkes sein. Die Mutter freut sich, dass wir alle zusammen sind, meckert aber zum Beispiel darüber, dass die "jungen Leute heute keinen Respekt mehr vor der Polizei haben". Ich komme aus einer Familie, die Polizisten respektiert. Ich denke mir: wie toll wäre es, wenn sich einfach jeder ein schönes Leben machen würde. Es ist so unheimlich, wie sich die Eltern über Nachbarn aufregen. Es ist so traurig, wie gefrustet und genervt und empfindlich die sind. Diese latente Abscheu vor Ausländern und Schmarotzern... Gedrücktes, vorsichtiges, sauberes Leben... Aber auch alberne, heitere, schöne, entspannte Momente... Vielleicht erstmal reinkommen... Das Gras erhebt, ich habe oft feuchte Augen, Mein Vater, der im DHL-Lager Pakete hin-und-herfährt (was für eine großartige Leistung!) regt sich auf, dass Leute schwere Farbeimer verschicken. „Ich finde das nicht richtig, die denken alle nicht daran, dass wir das dann in der Paketstation herumschleppen können die ganze Nacht.“ Also er erwartet, dass die Leute rücksichtsvoll sind, aber auf die Asylanten soll man nicht Rücksicht nehmen, denn das muss ja alles finanziert werden. Ich denke, ich schicke die 150 Euro Weihnachtsgeld zurück,
Idee für Weihnachten 2015: den Eltern einen Schweinekopf und einen Menschenkopf schenken. Vielleicht ernähren sie sich dann gesünder. Ich habe wirklich Angst, dass sie irgendwelche bösen Krankheiten bekommen. Sie wollen sich keine Gedanken über Ernährung machen, „weil man dann bald gar nichts mehr essen kann.“ Frage: wie könnte ich ihnen durch die Blume sagen, dass ich das Morden von Menschen / Tieren nur im Affekt, in echter Not/bei spontaner, herzlicher Lust oder zur nachhaltigen Verbesserung des Lebens "okay" finde? ... Vielleicht reichen aber auch ein Paar Augen. Schlagzeile: "Hat nur Augen für die Eltern: Eingebildeter Sohn schenkt geliebten Eltern neue Gefühle."

Dass sich meine Eltern oft mit der ekelhaften Popmusik im Radio abgeben, macht mich traurig. Ich streichle den Gedanke, dass Popmusik Wünschbarkeiten einengt, wie einen süßen Widder. Die Welt des Radios und Fernsehers: ein bunter, kalter Zirkus, in dem sich alles um die Idee des Geldes dreht, und mittelmäßig lässt sich am besten Geld verdienen. Kann man hinnehmen oder eben nicht. Was entscheidet, ob Hinnehmenkönnen und Nichthinnehmenkönnen? Die Lust! Die meisten Menschen haben keine Probleme damit, Dinge zu dulden die sie lustlos machen, denn "lustlos lässt sich besser arbeiten als depressiv", wie ein geflügeltes Wort über das Erzgebirge flattert. "Aber Lustlosigkeit ist selbst nur ein Symptom einer Depression!", erblüht in mir ein Blumenbeet. Mich zieht es wirklich runter, dass die Interessen der meisten Leute so beschränkt sind, dass sie nichts Neues mehr haben wollen, sondern immer nur das Immergleiche abspulen. Der Ekel vor dem übersichtlichen Elend der Masse. Die zitternde, hilflose Abscheu vor der demokratisch, finanziell und moralisch legitimierten Einöde des Geschmacks, der Banalität der Wünsche, die enge, dunkle Sackgasse der Bedürfnisse.
Kein Spastiker, kein Contergan-Kind, kein Tschernobyl-Opfer, kein Kriegskrüppel, kein AIDS-Kranker, kein Meth-Junkie kommt mir so behindert, so krank, so dumm und hässlich vor wie jemand, der sich nur für eine Art von Musik interessiert … oder der querbeet ALLES hört... oder der von Andrea Berg oder Freiwild oder den Toten Hosen „ergriffen“ ist.... Jede Art von Toleranz oder Mitleid für solche würdelosen Untermenschen kocht das Gift ihrer Arroganz nur noch weiter hoch... Man muss sie beschämen, entkoppeln, in eine jahrelange Verzweiflung stopfen und mit einer radikalen Diät zwangsernähren...Eine leichte, echte Heiterkeit, eine selbstbewusste Schwammigkeit, eine herzliche Schüchternheit, eine dionysische, festliche Aggressivität… alles undeutsche Tugenden. Der Deutsche kann weder albern, noch fröhlich empathisch, noch herzlich skeptisch, herzlich zurückhaltend, herzlich indifferent, herzlich willkürlich sein. Er ist gedrückt von einer sterilen Mittelmäßigkeit, einer arroganten, hilflosen Ehrfurcht vor Obrigkeiten, einer unstillbaren Lust an kleinen und mittleren Skandalen, Mängeln, Unreinheiten und einer primitiven Rührseligkeit. - Die Deutschen sind ein Volk, das nicht arbeitet um zu leben und auch nicht lebt, um zu arbeiten, sondern ein Volk das arbeitet um zu arbeiten.

Indem ich mit meiner Empfindlichkeit prahle, will ich meinen Beitrag leisten, alles „Deutsche“, „Gute“, „Wahre“ zu zerreißen. Alle Prinzipien und Hoffnungen und Ängste und Widersprüche zu einem apokalyptischen Frühjahrsstrom zusammenführen, der das Klima in diesen Breitengraden nachhaltig verändert. „Wir müssen die Flut steigen lassen, immer weiter steigen lassen und wir fürchten uns endlich nicht mehr, auch ins Blaue zu schießen und gewaltige Peinlichkeiten und Fehler zu begehen...“, schreibe ich mir in der Küche als Krücke in meinen Notizblock. Hier bei den Eltern kann ich gut über Dinge nachdenken, die mir bei mir zuhause banal erscheinen. Vielleicht war es doch gut, meine Eltern zu besuchen. (Ich stelle mir vor, dass ich der erste und letzte Mensch bin, der jemals diesen Satz ernst gemeint hat.)

Ein Leben in Zweifel, auf Distanz, in der Fremde, in der Schwebe, in Bewegung muss möglich und angenehm sein. Die Kunst muss das soziale Gefüge aus dem Takt bringen, damit jeder Einzelne es für sich wieder in seinen eigenen Takt bringen kann. Alles muss veränderbar bleiben. Ich fühle mich gerade so klar, so sicher, so weise, dass ich mir vorstelle, wie ich gleich mit dem Oberkörper durch den Glastisch, vor dem ich sitze krache und sterbe und für immer tot bin.
Es ist so einfach, depressiv zu sein.
Es ist so gefährlich, glücklich zu sein.
Ich will irgendwo einen stabilen Platz finden,
unter einem Torbogen
oder auf dem Friedhof leben.
Ich möchte mich mit dem versöhnen, was ich nicht verstehe,
was ich nicht beherrsche und was ich nicht mehr verändern kann.

Meine Selbstwahrnehmung unterdrückt mich. Heisenberg: was man beobachtet, verändert man. Und das Beobachtete verändert den Beobachter. Deswegen keine Selbsterkennen ohne dings. Das Erkennen steht dem Erkennen im Weg. Das Selbst steht der Selbstwahrnehmung im Weg. Deswegen verändert die Vorstellung, wie der Rausch von außen aussieht, den Rausch. Lass die jungen Schwäne in den warmen Sonnenuntergang schwimmen. Man muss sich gegen die Zukunft abschotten. Und auch gegen die Vergangenheit, denn ich habe manchmal das Gefühl, so zu reden und zu gucken wie meine Mutter. Aber jetzt kann ich mich sehr gut entspannen, das Schreiben ist als läge ich auf der Hängematte und ließ die Füße zappeln, das Schreiben findet ganz weit unter mir statt und sobald ich mit Schreiben aufhöre, fängt der Text an, sich von mir zu distanzieren. Ich schicke lange, stabile Sätze an den Horizont, ich sehe sie in Zeitlupe an der Zimmertür abprallen. Ich mag es, dass das Zimmer so hell ist. Es schafft eine gute warme Decke Sicherheit um mich.

Ich schreibe, dass ich schreibe. Mein Schreiben lässt sich von mir kraulen, es lässt sich bürsten wie ein teurer, schwarzer Elefant sich bürsten lässt, er kommt auf mich zu und lässt sich bürsten, es ist mir erlaubt, ihn zu bürsten. Ich mag dieses aktive, kribbelige Durchhängen, irgendwo in Europa. Ich recke mich und strecke mich und warte, bis die Sonne untergegangen ist. Hat es gerade geklopft oder war das in der Musik? "Das klang so als würde jemand an das schwarze Fensterbrett der Lautsprecher klopfen", sage ich wie ein Nachtwächter, der mit einer plüschigen Taschenlampe das Kaufhaus sicher macht. Diese Angst loszulassen... Man schreibt nur, wenn man nicht loslassen kann, man macht nur Musik, wenn man nicht loslassen kann, man steht jeden Morgen nur auf, weil man nicht loslassen kann.

Sie schwächen uns, weil sie uns Rechtfertigungen, Erläuterungen, Grundbekenntnisse abringen.

Ich glaube, die Zeit läuft langsamer ab, weil sie so gepolstert ist, ich weiß nicht, was das für die Zukunft bedeutet. Vielleicht ist das Leben deshalb eine Qual, weil wir immer ein gutes Ende wollen. Sollte man sein Ende planen? Vielleicht ist das Leben besser, wenn man sein Ende plant.

Man MUSS die Grammatik überwinden (Poesie) und sie vortragen (Lied). Das ist der natürlichste Ausdruck.

Im Gegensatz zu allen anderen Gegenständen weißt du wie es ist, von mir wahrgenommen zu werden. Ich verabschiede den Gedanken mit einem festen Händedruck.

Ich mag die Zeichen, die die Musik auf mein Gesicht streicht. Jeder Satz ist ein guter letzter Satz, der nicht klingt wie ein letzter Satz. Ich werde jetzt von meinem kippelnden Stuhl aufstehen und mich zur Musik bewegen. Ich kehre jetzt zum brennenden Lagerfeuer zurück. Der Tag ist noch jung, flexibel, gemütlich.