Der lyrische Trottel

Der folgende Text basiert auf dem Hymnus "Nur Narr, nur Dichter" von Friedrich Nietzsche. Die ausufernde, boshafte Leichtigkeit und Fröhlichkeit, die Reinheit und Erhabenheit seines Zarathustras, sein entschleunigendes, antidepressiv wirksames Pathos erscheint einem auch nur halbwegs aufmerksamen Leser derartig inkompatibel mit jeder Biedermeier-Pickelhaube-Behaglichkeit, dass es fraglich ist, was Friedrich Nietzsche dem deutschen Volk überhaupt zu geben hat. - Welche Bücher wünscht sich der anti-aufklärerische, bierselige, urgermanische Schrebergärtnervolksmob in den Lesekanon der Schulen? Ich verstehe nicht, warum nicht jeder seriöse Politik-Journalist den Literatur- und Musikgeschmack führender AfD-, NPD- und Pegida-Funktionäre recherchiert und interpretiert. Ist es denn nicht Widerlegung aller völkischen Ideologie, dass Holger Apfel, der ehemalige Chef der sächsischen NPD, ein Fan unter Anderem von Helene Fischer und Andrea Berg ist? Allein diese auf seiner Facebook-Seite angegebenen Musikfavoriten beweisen, dass alles, was der KKK getan hat (und tut und tun wird), falsch und krank und lebensverachtend ist. Man muss sich gar nicht erst Studien anschauen, die belegen können, dass sensible, kluge, empathische Menschen viel häufiger liberal und progressiv sind. - Oh, wieviel zartbesaitete, überempfindliche Kinder werden von ihren besorgten Eltern mit aggressiver, kranker, lebloser Schlagermusik abgestumpft? Jeder neue Stern am Schlagerhimmel bereitet einen neuen Vernichtungskrieg vor, der "verwandelt" werden will. Fußballmetaphern sind nur haltbar, wenn man sie gegen Deutschland verwendet. Geschmack ist wichtiger als Wahrheit.

Der dunkelgrünliche, frische Abend beruhigt meine Gier nach zerreißender Musik. Ich versteckte mich den ganzen Tag in meinem grellen Zimmer ohne Fenster und Türen, verrenkte jede angenehme Gewissheit aus meinem Körper, ein Starren in die Unendlichkeit alles Wahren und Unmöglichen. Da konnte ich nicht mehr bleiben.

Im Park, im dunkelblauen, welken Herzen dieser grauen Stadt aus Beton und Zeit, bin ich bereit, die Dunkelheit, ihre alle Zweifel aufbrechende und verzärtelnde Einfachheit, ihre unendliche Oberfläche in mein Herz aufzunehmen, so wie man weiße, weiche Tauben in den blauen Himmel wirft, so wie man auf dem Boden liegt und Musik hört, die weder eine Richtung, noch Fleisch, noch Blut, noch Geist hat, so wie man abgehetzt und ausgeleiert, taumelnd, zitternd, verbrecherisch hohl grinsend, strahlend sich klammert an die in sumpfige, kalte Leere laufenden Stunden.

Plötzlich brechen durch die schwarzen Bäume gelbe, heiße Abendsonnenstrahlen, so als käme die Halbnacktheit eines süßen, warmen, weichen Jungen aus dem Bad, so als würde er mir am Ohrläppchen knabbern:
"Warum tust du so, als wäre Welt und Wahrheit bei dir angestellt? Im Bordell deines Körpers gehst du als dicker Zuhälter hin und her und kümmerst dich halbherzig und selbstsüchtig um deine Mädchen. Aber sie, Welt und Wahrheit, sind nicht gemacht, um sie stundenweise zu mieten, sich mit ihnen die Zeit und die Lust zu vertreiben. Was willst du denn überhaupt darstellen, du sanfter, schwerer Trottel? Glaubst du immer noch an etwas, das Welt und das Wahrheit rechtfertigen kann?"
Ich erinnere mich, wie sehr ich ihn liebe.

"Du bist eine Katze, die Gedichte schreibt. Du weißt, dass du verlogen sein musst, um eine Katze zu sein und um Gedichte zu schreiben. Du willst gestreichelt werden, also spielst du dir selbst und der ganzen Welt etwas vor. Du hast unzählige Masken und noch mehr Hinterabsichten, du kannst mit ihnen machen was du willst, so wie sie mit dir machen können was sie wollen. Du lügst immer, deswegen gehörst du nirgends dazu. Du dienst keiner Idee und keinem Wahn, du bist kein Denkmal und kein Werkzeug. Wenn du in Kirchen und Synagogen und Moscheen dein buntes, strahlendes Gefieder zeigst, wird Beten und Gehorchen und Glauben zu einem unsinnigen Kraftakt. Dein tollpatschiger Mut und deine manische Fröhlichkeit stärken deine Nerven, lassen dich so vieles ertragen, was Andere unerträglich finden. Alles ist richtig, was gut und schön für dich ist. Was ist gut? Alles was deine Nerven stärkt. Deine kräftigen, glühenden Nerven! Sie machen vieles, was als gefährlich gilt, als abträglich, falsch und furchtbar, derart erträglich, dass du es sogar genießen kannst und je mehr und je genüsslicher du genießen kannst, desto reicher, stabiler und zugleich filigraner kannst du das Abenteuer gestalten, das zu dir führt.

Du lebst in einem bunten, gefährlichen Urwald, der deinen Sinnen, deinem Körper, deinem Geist schmeichelt, eine üppige, verwunschene Landschaft voll mit leuchtenden Schwämmen und Butterblumen und Mimosen, bis in den Himmel wachsende Kakteen, von Weltherrschaft und Unendlichkeit träumende Insektenstaaten, schlaflosen, selbstzerstörerischen Gürteltieren und Stachelschweinen, die sich trösten mit zarter, übermütiger Stinkefinger-Musik.
Manchmal bist du nichts anderes als ein hungriger Adler, der allein in der Höhlenluft seiner Höhe schwarze Kreise zieht, bis er sich plötzlich auf ein zartes, unschuldiges, frommes Lamm stürzt und es in blutige Fetzen reißt, allein weil er Lust dazu hat und diese Lust nicht unterdrücken muss. Er kann sie ausleben, ohne Schaden zu nehmen - er muss sie ausleben, um nicht Schaden zu nehmen. Du bist ein hungriger Adler, der Gedichte schreibt, ein hungriger, aggressiver Trottel, der anderen hungrigen, aggressiven Trotteln nicht immer ihre Hoffnungen, ihre Wahrheiten, ihre Macht gönnen kann... nicht immer... nicht immer. Die Lust, Menschen und ihren Lüsten und Früsten zu widerstehen, dich mit ihnen zu fetzen, die Lust, deine absolute Wahrheit in die absolute Wahrheit der Welt zu kratzen, die Lust dein Recht in das Recht der Anderen zu bohren, die Lust, dem Winter, dem Vakuum, der Einsamkeit, der Verwahrlosung zu trotzen mit einer fanatischen, blutrünstigen Fröhlichkeit, wie sie sonst nur Polizisten auf Speed und Soldaten auf Crystal-Meth und Minister auf Kokain leisten können, die Lust zu fluchen und zu schweigen und ganz, ganz, ganz weit auszuholen, die Lust etwas mit Schlussstrichen ins Schwanken zu bringen, ist das Beste, Tiefste, Zentralste, was du jemals unterdrückt haben wirst mit all deinen Gedichten und Gesichtern."

Langsam wird es Nacht. Der Mond dümpelt am Horizont wie eine grüne, leere Bierflasche ohne Etikett in einem vermoderten Spülbecken. Meine Müdigkeit und die Müdigkeit der Rosen berühren sich und trotzdem bin ich nur ein Trottel, der Gedichte schreibt.