Lächelnd stolpern

1
Wer sich und die Welt nüchtern ertragen kann, ist entweder masochistisch, dumm oder von Gott oder dem Teufel gesegnet; mein Ekel vor der deutschen Feierabend-Kultur ist größer als meine Lust, betrunken zu sein. Ich zähle eins und eins zusammen und spaziere über den Zebrastreifen. Ich sehe keine echte Lebensfreude, keine brauchbare Weisheit in den Säufern, die in der Stadt herumgrölen, auf den Sitz der Straßenbahn kotzen und auf der Parkbank zusammensacken. In diesem Sommer habe ich ein fast infantiles Faible für coole Menschen entwickelt, für entspannte, erhabene, selbstbewusste, sensible, liebevolle, genießerische Typen, die Haltung zeigen bei allem, was sie tun und nicht tun, die mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gehen, die freundlich zur Kassiererin sind, die vorsichtig und unaufhaltsam irgendetwas Interessantes mit ihrem Leben anstellen, die vielleicht mit beiden Beinen in der Ausweglosigkeit stehen, aber stolz und von feinstem Trotz verzärtelt, voll wilder Hoffnung und bedingungsloser Liebe. Ich finde solche Jungs in heruntergekommen Proberäumen im Gewerbegebiet, unter riesigen, dunklen Trauerweiden des Luisenparks, in verrauchten Ecken unsichtbarer Jazzkneipen und im Schneidersitz auf dem Angerbrunnen und keiner von ihnen säuft, keiner von ihnen fühlt sich betrunken glücklicher, schöner, stärker, ehrlicher. Einige von glauben ihrem künstlerischen Schaffen mehr als sich selbst, viele erheben und entspannen sich mit Marihuana, ein paar von ihnen sind völlig zerrüttelt von Angst und Selbstzweifel und haben wirklich nichts, woran sie sich festhalten können und niemanden, an den sie sich wenden können, aber keiner von ihnen glaubt an Alkohol und ich habe Lust sie alle zu küssen und mit ihnen wie eine Hyänen-Herde in die Abend-Dämmerung zu verschwinden und die Stadt umzukrempeln.

2
Augen. - Wie ernst kannst du den Gras-Rausch nehmen? Das Papier wirkt nass, dabei ist nur die Luft feucht. Kann ich mich nochmal wie vorhin in die Angst reinsteigern, niemals mehr normal reden zu können? "Du wirst nie mehr richtig reden können!" (Diesen Satz mehrmals lesend, laufe ich durch den schönen, grauen Park, in dem es eben noch geregnet hat, aber er zündet nicht mehr, weil ich nicht weiß, wie ich ihn genau formulieren soll. Als ich das, was er ausdrückt, nur gefühlt habe, war ich überzeugter. Jetzt, wo ich ihn ausformulieren will, versackt der Inhalt in eine peinliche Banalität. Ich komm mir so alt und schwerfällig vor.) Nun renn doch nicht gleich weg, man kann doch über alles reden. Ich stehe mitten auf der Wiese und schreibe in mein Notizbuch. Jetzt kommen Leute und ich ziehe mit dem Zelt meiner Existenz an einen ruhigeren Ort. - Niemals unter Bäume stellen, die Angst vor herabkleckernde Vogelkacke würde alles zerstören. Graukühl, entspannt verregnet stehe ich auf der Wiese im Park. Hat sich gerade ein Polizist hinter einem Gebüsch versteckt? Und wenn ja, hat er es auf mich abgesehen oder bin ich nur ein Komparse für den sich keiner interessiert? Ich weiß genau, was meine Aufgabe als Schriftsteller ist, doch blicke ich mich um, hustet mich fragend die Stadt an. - Ich bin schon wieder umgezogen, weil ein Mann mit Hund gekommen ist. - Ich drehe mich nochmal zu ihm um. Er sieht, wie ich mich umdrehe und schreibe, hoffentlich kommt er nicht zu mir und will lesen, was ich schreibe. - Ich gebe mir in Gedanken eine saftige Ohrfeige und kümmere mich um das, was ich schreiben wollte, bevor der Typ aufgekreuzt ist. Plötzlich tauchen weitere Hundebesitzer auf und ich verstecke mich blöderweise unter einem Baum, der sich nur ein paar Meter neben ihnen befindet. Es ist kein Versteck, ich fühle mich nur sicher hier, angelehnt an diesen starken, warmen Baum, wie in meinem Zimmer. Oh Gott, ich steh immer noch bei ihnen und schau sie auch noch an und schreibe diesen verfluchten Satz, als wäre ich am Rand meines Lebens angekommen. Glücklicherweise würde niemand auf den Gedanken kommen, dass ich vom Ordnungsamt bin oder ein Spitzel oder sowas, denn ich trage eine kaputte, rote Hose und eine kaputte, schwarze Lederjacke, meine Haare sind so fettig, dass ich sterben würde, wenn mich jemand fotografierte und den ein oder anderen Punker-Button sehe ich auch. Und was, wenn die Leute trotzdem oder gerade deshalb sehen wollen, was ich  gerade schreibe? Ich glaube nicht, dass ich jetzt ertragen könnte, dass die Leute verblüfft wären, dass ich gerade wie ein schwerfälliges Tier diesen Satz mit den drei nervigen "dass" und den zwei extrem nervigen "dass" schreibe. Ich glaube, die Gesichter, die sie machen würden, brächten mich endgültig aus der Bahn. Deshalb bin ich froh, dass sie jetzt auch mal weitergehen und ich ebenso - zum Glück reiße ich mich zusammen und laufe nicht in die selbe Richtung wie sie.

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Angegiftet von Koffein und Hoffnung versuche ich mit riesigen Spiegeln das Herbstsonnenlicht umzulenken in die graue, zu Boden gehetzte Menschenmasse und werde von gelangweilten Sicherheitskräften in eine Seitengasse getreten. Ich schaue meine Hände an und sag mir: "So viele Menschen, die ihr auf dem Gewissen haben könntet!" Kann ich alt sein ohne zu bereuen, niemanden getötet zu haben? Was nützt es, ohne Reue zu sterben? Ich sollte mich nie wieder ärgern über Leute, die noch kein Wort von mir gelesen haben. (Ich halte mich übrigens nicht für einen originellen Schriftsteller. Es gibt gar keine Originellen, höchstens welche, denen man nicht gleich ansieht, wen sie imitieren. Ich glaube, jeder kann sich originell scheinen lassen, wenn er heimlich zwei oder mehrere einander kontrastierende Stile, Persönlichkeiten, Haltungen, Gewohnheiten übereinanderlagert und plötzlich zur richtigen Zeit als sein Genie wie einen Revolver aus der Hose zieht.) - Manche Menschen müssen verwirrt werden. Die Leute brauchen außerordentliche Erlebnisse, damit das anständige Leben in den üblichen Mustern nicht mehr attraktiv genug ist. Das ist die Aufgabe der Künstler. "Du kannst doch so viel mehr aus deinem Leben machen als das", steckt in jedem guten Lied, es kommt nur darauf an, ob man es vor dem Aufstehen oder vor dem Zubettgehen hört.  "Von wem willst du dir was sagen lassen? Was kannst du noch ernst nehmen", sollte über jedem Plattenladen geschrieben sein. - Manche Menschen aber müssen einfach im Schlamm versickern. Man kann ihnen nicht mehr helfen, weil sie unempfindlich geworden sind, unknackbar: "Lass uns weiter auf die grüne Glühbirne starren und Substanz abbauen! Niemand hat irgendetwas mit uns vor! Wir sind hier an diese unfreundliche Welt gekettet, bis wir irgendwann ans unfreundliche Nichts gekettet sind." Eine Krähe steckt optimistisch ihren Kopf in einen Totenschädel, ich stoße eine brennende Mülltonne den Abhang runter, denn niemand interessiert sich mehr für irgendwas, nur noch für Extreme. Die Kanäle werden immer enger, die großen Gefühle immer kleiner. Statt echter Persönlichkeiten finde ich nur nervöse, trübe Nervenlichter hinter blassen Stirnen flackern, in dieser Stadt gab es lang kein echtes Gewitter mehr. Ich hasse mich für meine Unfähigkeit, darüber zu heulen und mit meinem Heulen andere Leute zum Heulen zu bringen. Ich muss diese Unfähigkeit knacken; wüsste nicht, welches Mittel mir dafür nicht recht wäre. Das Wort Möglichkeit verbinde ich mit einer roten Ziegelmauer, das Wort Lebensfreude mit einem Vorschlaghammer. Wer wirklich versteht, dass die Stadt ein riesiges Theater ist, hat weniger Hemmung, etwas lauter oder schäbiger oder schöner oder witziger oder aufrichtiger zu sein als der Rest.

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Mit all den Freunden, die ich dieses Jahr in Erfurt gefunden habe, könnte ich ein Leben lang glücklich sein, so glücklich wie ich es bin, wenn ich unter rauschenden Bäumen in den sonnigen Herbstmorgen knicke wie ein Butterblümchen die Besenkammer verbiegen will, in der ich darauf warte, dass meine neue Wohnung frei wird, in der ich an eine Zukunft glaube, da alle Menschen der Stadt sich unter rauschenden Bäumen beruhigen, durchatmen und neue Verbindungen zueinander knüpfen, während mich die Langeweile und Arroganz der Erfurter niederdrückt und mich John Coltrane und ein Kaffee zu viel immer größer und weicher und gieriger macht. Ich habe mich so weit aus dem Fenster gelehnt, dass ich nur noch das Haus verlassen kann, wenn ich mir vorstellen kann, die Stadt eines Tages ganz nach meinen Bedürfnissen umformen zu können. Solang ich mich als ein Opfer fühle, sind meine Augen trüb, meine Bewegungen grob und meine Gedanken kalt. Sobald ich aber ein Täter bin, ein fröhlicher, empfindlicher, genüsslicher Täter, wird die Musik überzeugender, werden die Gesichter meiner Freunde komplexer und alles Hässliche und Böse der Stadt so dramatisch wie ein frischer Rotweinfleck auf dem ranzigen Teppich der Besenkammer, in der ich noch einen Monat darauf warten muss, dass mein neues Zimmer in der WG von Piet und Steppel frei wird. Ich liebe meine Freunde, ich kann mir nicht vorstellen, sie nicht zu kennen, ich will gar nicht wissen wie ich geworden wäre, hätte ich sie nicht gefunden, es fällt mir leicht ihnen zu vertrauen, vielleicht weil ich sie so nötig habe - oder ich habe sie nötig, weil ich ihnen vertrauen kann? Mit einem roten und einem schwarzen Schmetterling hinter meiner Stirn küsse ich meine Freunde auf die Wange und schubse sie auf die Straße, wir werden beinah von einem Lastwagen angerempelt, der Fahrer steigt wutschnaubend aus, zieht uns die Ohren lang und tritt uns in den Park zurück, wo wir zitternd vor Lachen unter rauschenden Bäumen uns vorstellen, Erfurt mit Ambientmusik und Meskalin aus unserem Kopf zu kriegen, um Platz für die ganze Welt mit all ihren Problemen und Gefahren zu schaffen.

5
Zieh deine Schuhe an, öffne all deine Kanäle und geh nach draußen. Siehst du den blauen, kühlen Herbst weiße, weiche Federn lassen? Siehst du wie die Stadt ein- und ausatmet? Sich langsam aufplustert und die Straßen breiter und die Menschen schiefer und die Gedanken verschwommener macht? Wenn du nicht mitkommen willst, fahr ich mit dem Fahrrad. Wann legst du dir mal eins zu? Die Stadt ist nur erträglich, wenn man ihre Permanenz mit einem Fahrrad wegtreten kann, oder wenn man immer wieder bereit ist, sich von Partys enttäuschen zu lassen.

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Das explosive Kribbeln unter der Schädeldecke steuert die Bewegungen des Kopfes und seiner Gedanken. Halten die Gefäße das aus? Ein Aneurysma schwebt wie ein Geier über der Stadt, während ich auf meinem Bett erleuchtet bin von einer Euphorie, die all meinen Schmerz und all meine Langeweile zu einer unendlichen Kalaschnikow verdichten würde, käme ich auf die Idee, noch einen Zug zu nehmen und ich erinnere mich an heute Nachmittag: eine aufgepeitschte Trümmermami fährt mir mit dem Kinderwagen über den Fuß und schreit mir vorwurfsvoll um die Ohren, dass ich ein Taugenichts bin und an einem Kaffee nippend frage ich mich, warum sie wohl etwas gegen Taugenichts haben könnte. Obwohl sie die Allerletzten sind, denen man vorwerfen kann, aktiv an diesem fürchterlichen, unvernünftigen Weltgeschehen beteiligt zu sein, wecken alle Faulpelze und Irrlichtgestalten eine gewisse Angst und Abscheu in den Menschen: "Was wird wohl aus den Nichtsnutzen, wenn ihnen langweilig wird? Dann werden sie böse! Ich hab es an mir gesehen! Wenn ich nichts tue, fühle ich mich schlecht und werde böse. Sowas darf es nicht geben, jeder muss arbeiten, jeder muss irgendwo drinstecken, um nicht auf die schiefe Bahn zu gelangen! Wie schön wäre es, wenn alles unter meinem Kommando stünde!" Meine Gedanken entgleiten mir und ich habe keine Lust sie zu verfolgen, setze mir stattdessen Kopfhörer auf und verschwinde für ein paar Stunden unter der Trauerweide im Kleinen Venedig.

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Friday night is going to kill you again. - Die Nachrichten lassen ihre unscheinbaren Imperative über mich kreisen, wenn die Reporterin blutunterlaufene, flehende Augen macht, die mich direkt ansprechen. Ich will nicht mehr hilflos zuschauen, wie das schwache Söhnchen dem Streit seiner Eltern zuschauen muss, zur Passivität verurteilt in einem noch unfertigen Körper, ausgeliefert dem Toben der Größeren, enttäuscht vom Missverständnis der Stärkeren, mag ich die harmlosen Witzchen, die der Nachrichtensprecher mit der Wetterfrau macht. Wie gehe ich nun mit den Aufforderungen um, die ich mit meinem Gehirn aus dem Subtextsumpf des Weltgeschehens gefischt habe? Erstmal trocknen lassen, ja. Die öffentlich-rechtlichen Medien wollen die Rolle, die ich spielen muss, mehr beeinflussen als die Demütigungen, die meinen Erziehungsberechtigten - zu Recht - widerfahren sind, und lieber zahle ich Rundfunkgebühren als Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Der Wahrheit verpflichtet, lass ich mich in mein weiches Bett fallen und überlasse mich der nach Rosen und Schokolade duftenden Ratlosigkeit.

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Ich mag es, wenn immer mehr drin steckt, als erwartet.
Und je empfindlicher du bist, umso mehr erwartest du.
Wenn die blöden Leute nicht zu toller Kunst kommen wollen, dann muss die tolle Kunst eben zu den blöden Leuten kommen, bis die Polizei den Stecker zieht.
Zunächst erstmal: Spannungen aushalten. Herunterfahren. Gemütliche Wüste. Weicher Knick. Drogen. Extreme Gegenwart ersetzt das Ichgefühl.
*
Wäre es für einen Versager wie mich nicht toll, würde er sich mit allen anderen Versagern des Landes zusammentun können? Ein Lebens in einer vernetzten, solidarischen Welt, wo jeder jeden kennenlernen kann (strukturierte, filterbare Datenbanken, in denen alle Menschen sich mit ihren Eigenschaften eintragen können, um Menschen mit bestimmten Eigenschaften zu finden,
(Auch schwer vermittelbare Heuschrecken und Leguane und Vogelspinnen finden ein gemütliches Zuhause. In Mexiko gibt es Ameisenstaaten, die verspeisen innerhalb weniger Stunden einen Menschen. Eine bei der Drogenmafia beliebte Hinrichtungsmethode ist es, einen lebenden Menschen in ein Grab zu werfen und einen hungrigen Ameisenstaat hinterher. Soweit darf es natürlich niemals kommen!)
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Die Menschen fühlen ihre Subjektivität in Frage gestellt allein durch die Anwesenheit eines andersdenkenden, andersfühlenden Menschen. Der Mensch muss lernen, sich zu entspannen. Es gibt nämlich gar keinen Grund zur Besorgnis: wir können alle nebeneinander existieren. Wir müssen nicht alle im selben Haus wohnen. Es ist nicht wichtig, sich gegenseitig zu überzeugen. Es gibt kein Hauptprojekt, kein anderes Ziel, als den kreativen Strom lebendig zu halten.
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Eines Tages wird ein einziger Ton ganz Europa vereinen. Kollektive, rauschhafte Besinnung.

9
Um mir zu ersparen, wie meine Freunde beim Aktzeichen-Kurs an der FH ihre Pinsel schwingen lassen, hatte ich beschlossen, mich von ziellosen Straßen ein bisschen gehen zu lassen und baute mir später versehentlich ein unsichtbares Zelt in der Mitte einer bunten Vernissage über Schamhaare und Orgasmus-Farben und dreckige, gierige Lachen dröhnten, meine Zunge wurde immer saurer und ich verlor das Gleichgewicht und schlitterte windschief ins "Gemütliche Eckchen" und ein paar Gesichter hier kannte ich, im Kreis flüchtige Bekannte, die auf gemütlichen, aufblasbaren Badespaß-Tieren saßen und mich fröhlich zu sich aufs Karussell hochwinkten, hochwunken, Euer Hochwunken! Es ist mir eine Ehre.
Die Schüchternheit, die meinen Körper von inne her leuchtend macht, kann die anderen Teilnehmer doch nicht gleichgültig lassen! "Mein ganzes Weltbild passt unter einen Bierdeckel: gute Laune ist keine Glückssache.", seufze ich von den Anderen ungehört in mein Wasserglas. Sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, mach ich mich darauf gefasst, dass man mir jeden Moment euphorisch um den Hals fallt, um mir für eine große Sache zu danken, die mir ganz leicht, fast beiläufig gefallen ist. Ich mache große Augen und vielleicht knallt es gleich...


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Die scharfe Sichel des Mondes trüb blutorange am schwarzen Horizont aus Industriegelände und Nacht betrunken niedergleitend, während die Autos alle Verkehrsregeln genau beachten, denn nur wenn Verkehrsregeln befolgt werden, kommt man sicher zum Ziel: ein glückliches Leben und ich setz mich an den Tresen meiner Lieblingskneipe, bestelle einen Kirschsaft und denke an einen armen, alten Hund, der seine Enttäuschung über das immergleichen Billigfutter nicht ausdrücken kann. Ich erinnere mich an den Anfang meiner Zeit, als ich das Leben so wenig wollte wie es mich nötig hatte, an die Kindergartenzeit: heute soll es noch gewittern. Es kann sein, dass ich etwas Neues probiere. Du hast schon wieder gekleckert! Es ist so schönes Wetter! Wenn man ein Kleeblatt mit vier Blättern findet, dann bringt das Glück. Eine Hexe ist auch nur ein Mensch. Jemand macht die Tür vor dir zu. Du sollst das nicht in den Mund nehmen! Wenn du noch zu deinem Freund willst, dann räum vorher dein Zimmer auf! Ich hab Hunger, aber trau mich nicht zu fragen. Irgendwas geht hier vor. Das gehört sich aber nicht! Der Wahnsinn wird vorsichtig vorsichtig geschluckt und schreiend und tanzend verdaut. Der vorige Satz und der folgende sind aneinandergeleimt mit hellgrünem, salzigem Nasenschleim. Am Rand der Anderen wie als zweiter Mond die Erde umkreisend, ist nichts mehr verboten. Der Regen plätschert auf den Tresen, die Sonne strahlt hell, wir sehen das Gras wachsen, jeder sitzt auf seinem Stuhl, ich werde plötzlich kleiner und fließe nach unten wie Grießbrei. Der Hausmeister zerschmettert einen Fernseher mit einem Vorschlaghammer, meine Füße stinken wie die Füße meines Vaters stinken und ich ahne, was es bedeutet, authentisch zu sein und ich stolpere über einen Haufen Plüschtiere, meine alte Englischlehrerin riecht nach Patschuli, es ist Mittag und der Himmel ist fast so schwarz wie Kaffee, meine Mitschüler schieben mir schadenfroh kichernd ein Ei hin, das schauerlich quiekt und ich verkrümel mich in eine Ecke, keiner sieht mich mehr, ich liebe mich von ganzem Herzen und bin wieder am Tresen, die Sonne ist weg, der Regen regnet weiter und ich schütte Benzin auf den Tresen und zünde ihn an.

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Heute ist Trump Präsident geworden, Europa bekommt einen Krampf, Selbstbewusstsein ist unvermeidbar geworden, jetzt haben wir keine Entschuldigung mehr! Festgekrallt an deinen ruhelos schlafenden Körper fand ich Clintons Niederlage mit meiner Unfähigkeit dich zu küssen verwandt. Die Welt leidet an meinem Liebeskummer, die Welt weitet sich unter meinem feuchten, fröhlichen Liebeskummer, den ich stolz trage wie eine Elster Silberschmuck, da er meine Hausratsversicherung rechtfertigt. Ich spüre wie du auf meinen Schultern sitzt, die Leute fragen sich, ob wir noch lange hier bleiben, lassen es sich aber nicht anmerken. Ich finde es toll, dass wir den Leuten den Platz wegnehmen, dass wir unsere Liebe und Angst und Verwirrung mit Bausch und Bogen und leuchtendem Lametta durch die Straßen schmettern, unsere Mägen subtropisch-würdig gebläht, der überempfindlich machende Glanz der uns trägt, die ziellose Begeisterung, der wir uns bedingungslos unterwerfen. Soviele Gedanken machen keinen Sinn, dürfen keinen Sinn machen! Das Ich ist die Struktur der Sinnlosigkeit. Ich wickel meine Ansichten wie weiche, verschnupfte Rosensträuße um die unendlichen Finger meiner Lebendigkeit. Ich möchte beklatscht werden von allen, die kein Wort verstehen, ich will aus den Angeln gehoben werden von Drohgebärden unsichtbarer Zwangsvollstreckungsbeamten, die müde Akten und Menschen und Zeit wälzen. Das Ich ist die Kapitulationsflagge der Wahrnehmung. Ich zittere, ich schwitze, ich habe Hoffnung für jeden Menschen.

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Lasst mich hängen bleiben an der Trauerweide, lasst mich glühen und seitlich in den Abend kippen. Die Welt ist in Aufruhr und ich spüre meinen Körper meine Karriere verneinen. Die Zeit vergeht ganz langsam, wenn ich mich nicht auf meinen inneren Monolog konzentriere, der für mich gegen meinen Willen die allmorgendliche Suche nach einem Kaffee in der Innenstadt moderiert. Lasst mich hängen bleiben, schrieb ich vorhin an der Bushaltestelle, jetzt ist der Kaffee getrunken und ich öffne mein Notizbuch und beginne mit der Arbeit..

und bitte tu nicht bloß so
als würd ich zu dir gehören
ich werd dir jeden tag kartoffeln kochen
und alles könnte noch
viel viel viel gemütlicher werden

oh bitte lass dir niemals
unter keinen umständen
von irgendwem die welt erklären
such und finde in keinem lehrer
unter keinen umständen
einen elternersatz

denn alles
was du wissen musst
kannst du dir selbst beibringen

oh bitte lass dich niemals
unter keinen umständen
von dichtern und denkern ablenken
such und finde in keinem werk
unter keinen umständen
ein neues zuhause

denn das einzige haus
in dem du wohnen musst
ist die ruine deiner kindheit

Ich weiß, dass das Lied noch nicht fertig ist, ich verliere aber die Konzentration, die Gedanken scheppern wie Besteckkästen die Treppen dieser Zeilen hinab, dieses Buch ist ein meinem Körper zugehöriges Organ, wie meine Zunge, wie meine Leber, wie meine Brille, wie mein Facebook-Avatar. Dieses Buch ist ein Kommentar zu meinem Personalausweis, eine unsichtbare Frage, die ich der klebrigen Frage entgegne, was ich ohne meine Freunde und ohne mein Schreiben wäre. Was will ich? Ich will meinen Freunden ein guter Freund sein, und ich möchte viele Freunde, viele verschiedene: dieser Vorsatz ist Ermutigung genug, das Bett zu verlassen und mehr brauch ich nicht, um durch den Winter zu kommen. Ein guter, dichter, wilder Freundeskreis ist meine Utopie. Wenn ich wirklich etwas zu geben habe, dann meine Liebe und Empfindlichkeit. Ich möchte, dass jeder in meinen Kreis findet, der meinen Kreis nötig hat, ich will, dass jeder uns findet, der uns braucht. Ich stelle mir einen im öffentlichen Leben zur Schau gestellten Freundeskreis vor, offen für die Geschichten, die sich in der Stadt abspielen, wild darauf zu interagieren. Ich stelle mir eine Gruppe von Taugenichtse und Suppenkasper vor, die nach gutdünken im Stadtleben eintauchen, es mit Präsenz würzen, "die schon für irgendwen gut ist", lächeln sie den unfreundlichen Menschen wie wehende Fahnen entgegen und niemand glaubt ihnen, alle wollen Beweise sehen und jedes Manifest ist ein Versprechen und jeder Sinnestaumel eine Offenbarung, jede depersonalisierende Freude ein Fanfarenstoß, jedes Gedankenspektakel ein leuchtender Blumentopf, der vom Fenster gestoßen werden will. Nichts ist heilig, kein Talent ist nötig, ein bisschen Scham vielleicht und ein bisschen Rachsucht, warum nicht auch ein bisschen Faulheit und Frivolität? Sobald man etwas ernst nimmt, sitzt man in der Zwickmühle. Nur echte Heiterkeit zählt, die fröhliche Distanz, die herzliche Weigerung, mitzuspielen, die kunterbunte, mit falschen Diamanten und echten Erdbeeren geschmückte Verzweiflung, nur die feierliche, unverschämte Niedertracht des Ratlosen kommt in Frage, wenn du in der Zwickmühle steckst. Ich stelle mir einen Freundeskreis wie eine Performance vor, ein gemütliches Kissen für alle, die ein gemütliches Kissen brauchen und verdient haben. Nicht jeder hat eins verdient: viele Leute müssen um ihre Ruhe und Gemütlichkeit gebracht werden, viele Leute müssen in den Wahnsinn getrieben werden: bloß kein Mitleid mit denen, die sich gern knechten lassen und die Sündenböcke brauchen: sie haben den Hass ihrer Väter und Mütter und Freunde und Feinde übernommen, er ist ihnen einprogrammiert worden und man bekommt ihn nur mit katastrophalen Ereignissen heraus. Je länger ich wach bin, desto weniger kann ich mich entscheiden, ob die Stadt einen kuscheligen Pullover oder eine Ohrfeige braucht. Ich verliere die Lust ein Schriftsteller zu sein, sowenig wie ich mir etwas vormachen kann, kann ich anderen etwas vormachen. Lieber räum ich die Küche auf, als Gedichte zu schreiben, lieber schau ich die Nachrichten, als Karl Marx zu lesen, lieber hör ich einem Gespräch zu, als mich selbst zu inszenieren. Am ehrlichsten fühle ich mich, wenn ich mich dafür hasse, nichts als Geschwafel von mir zu geben. Jeder Text zeigt mit zwei dicken, neonleuchtenden Daumen auf den Autor: seht nur dieses Gesicht, diesen Mund, seht nur: da ist ein Mensch, der sich mitzuteilen hat, er muss wichtig sein, denn er hält sich für wichtig. Als würde sich nicht jeder für wichtig halten! Was für eine unspektakuläre Laschheit hinter der Fassade, die sich aus geklauten Worten und geklauten Schablonen eine Hoffnung und Würde destilliert, die erschreckend unangebracht ist: ich will nichts beschönigen und nichts in den Dreck ziehen: ich will einfach mit einem blauen Auge davon kommen.

ich stolpere und lache über meine unfähigkeit zu entscheiden was witzig ist oder was seltsam ist oder was mich beunruhigen soll. ich vermisse das gefühl, beunruhigt zu sein. ich geh durch meine nachmittaglichen gedanken wie durch lange korridore und silber-goldnes lametta hängt überall herum, jemand wird sich was dabei gedacht haben, ich schaue allen leuten in die augen, ich verstehe alles was sie sagen und freue mich, dass mir so viel anvertraut wird. ich bin eine öffentliche person geworden, seit ich lieder über meine stadt schreibe.


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Abschaffende Fröhlichkeit. - Ich versuche dem Himmel ein Lächeln ins Gesicht zu starren mit der Frage, was daran verwerflich sein soll, sein Glück mit Cannabis zu versuchen, während meine Klassenkammeraden es guten Gewissens mit ihren Jobs und ihren Hobbies versuchen, ohne besonders zuversichtlich auszusehen, während ich zweifellos zuversichtlich aussehe, weil ich zweifellos zuversichtlich bin, dass es so weitergeht wie bisher, also dass ich jeden Monat ein besserer Songwriter und Schriftsteller werde, dessen Projekt die manische Weigerung ist den eigenen Charakter weiterzuführen, sprich die üblichen Verhaltens- und Dnekmuster an den Tag  in meinem Fall in die Nacht legt: bevor nämlich das Gras mich entkoppelt hat in die unendliche Musik des Marihuana-Highs, das animalische Versacken in den neuronalen Zustand vor der Personalwerdung, die erst möglich wird, wenn man den Vorurteilen glaubt, die andere Leute von einem haben. Weist man alles zurück, was die Mitmenschen zu bieten haben und putzt ihre Imperative und Drohungen und Erwartungen und Ängste wie jahrealtem Staub von sich ab, zersplittert das Ich und die Geschichte in lauter Module, die sich ganz neu konfigurieren lassen: jetzt gibt es erstmal niemanden mehr, der das tun könnte, niemand lenkt mich mehr, ich bin frei von der Logik, die mein bisheriges personales Leben zu einem leeren Gepäckband verkommen ließ, die alten Muster sind abgeschafft, dies ist die Geburt meines Pseudonyms, in der gleichen Woche trete ich zum ersten Mal mit meinem Solo-Piano-Album auf, Demien Bartók kriecht in die Große Maschine: zur Möbelhauseröffnung spielt Demien Bartóks Kompostdisko schon wieder am Freitag in der Salinenstraße und am Samstag im WirGarten, einem sich gerade sehr erfolgreich etablierenden Gegenkultur-Festival, hier lege ich gute Musik auf und singe meine Kabarett-Songs und trau mich nur maskiert in die Öffentlichkeit und bin Cannabis-süchtig und popel grinsend dem grauen Himmel ein Lächeln auf, zumindest in meiner Sprache lächelt er auf, in meinem schiefen Lallen im grünen Laternen-Mondlicht auf weichen Kissen vor- und zurückwippend, eine seiden-flimmernde Entspannung massiert die Rückseite meines Gesichts und meiner Stirn, wie ein mit Lederriemen auf einem Bett gefesselter, in Zukunftsangst und Schlaflosigkeit manisch gewordener Junge sehne ich mich nach einem Neuen Europa, glaube ich an ein Neues Europa, bin mir nicht zu schade für dieses Pathos, denn es funktioniert auch als Witz, falls ich der einzige wäre, der daran wirklich glaubt. Ja, das war vielleicht alles nur ein Witz, ein bewusst schlampig erzählter Witz voller Sackgassen und peinlicher Sinnlosigkeit; und dass ich trotzdem daran glaube ist die höchste Verneinung des Nihilismus, in dem ich mich verrannt hatte, bevor ich durchgebrannt bin: "Das Leben lohnt sich, ein schiefes Leben ist möglich, ein Leben dass man nicht ernst nimmt, erweitert sich, mehr weiß ich nicht, mehr will ich nicht wissen. Bevor ich das nächste Mal Meskalin nehme, muss ich noch endgültig den Kontakt zu meinen dummen Eltern kappen und aus meiner versifften WG ziehen, ich werde die Wohnung derartig manipulieren, dass man sie nicht mehr bewohnen kann, ich werde diesen ekelhaften Punks die Waschmaschine und den Kühlschrank kaputt machen, das Internet mitnehmen und das Klo verstopfen: ich wünsche ihnen einen traurigen Herbst und einen kalten Winter und ein einsames Frühjahr. Im Herbst wird Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten, im Winter werden die ersten Flüchtlinge verbrannt, im Frühjahr explodiert in Frankreich ein Atomkraftwerk und weitere Katastrophen werden folgen, die Reichen verschanzen sich, die Armen fressen sich gegenseitig auf und viel zu spät geht den Künstlern ein Licht auf, viel zu spät ergreifen sie Partei, viel zu spät nehmen sie es mit denen auf, die uns unsere Empathie und unsere Kreativität genommen haben, die uns abgestumpft haben so wie kalte, ungebildete, egoistische Eltern ihre Kinder sich immer ähnlicher machen. Ich geh genau die andere Richtung und mit diesem Buch und meinem ersten Musikalbum ist meine Ausgangsposition markiert und ein Huhn läuft wieder über die Straße und alle Menschen halten an, die Gesichter der Leute sind freundlich, alle freuen sich, dass das Huhn heil über die Straße kommt und Popmusik muss einfach sein und warum quälst du dich so mit deiner Arbeit rum, was bleibt dir noch übrig außer abzustumpfen? Ich sah die besten Köpfe meiner Generation vom Bewerbungsschreiben zerstört und am ehrlichsten ist man, wenn man einfach nur in die Dämmerung starrt und nicht weiß, wie man damit umgehen soll, dass man nicht weiß, wozu man sich bekennen kann, doch wozu derart aufrichtig sein, wer hätte etwas davon? Die Asylheime brennen, Menschen ertrinken auf der Flucht im Mittelmeer, Lämmer werden geschlachtet, Menschen werden geschlachtet, wenn mich einer braucht, ich bin im Garten und grabe ein Loch und taufe es auf den Namen Europa und warte auf einen Herbststurm, ein brachiales Unwetter, an dem sich alle Geister scheiden sollen, meine Sehnsucht glüht violett und biegt meinen Oberkörper, derart dass Erfurt aus mir verschwindet, ich hab die Stadt hinter mich, unter mich gebracht, von namenloser Vorfreude dissoziiert schlittere ich in ein neues Europa, in ein neues Zeitalter. Ich habe Erfurt abgeschafft! Ich habe Europa behauptet! Ich bin nicht mehr depressiv! Ich bin mich losgeworden! Ich habe den Glauben an die Zukunft wiedergefunden.....

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Ich brauche Liebe, Kaffee und ein verstimmtes Klavier! Ich habe Songs zu gebären, ich will sie mit meinen Freunden großziehen und sich frei entwickeln lassen! Unsere Liebe ist der Glaube, dass diese Welt immer neue, tapfere Lieder braucht.
Auf der Suche nach Substanz stürze ich über meine Füße und falle in unendliche Leere, bis mich ein Beat rettet und sicher nach Hause bringt, ein Beat der keine Spende erbittet, ein Beat der freimütig gibt und nichts zurückhält, eine elektrisch verstärkte Perversion, ein grimmiger Blick als Antwort auf grimmige Gesichter, der Mittelfinger einer grundlosen Euphorie, selbstverlogen und hypersensibel steigern wir uns in die Ungewissheit hinein wie sich die beiden Lokführer, die auf der selben Schiene aufeinander zugerast kommen, in den Aufprall hineinsteigern müssen.
Die Tatsachen prallen gegen die Zukunft und beides verbiegt sich, das Treppenhaus ist voll bunter Blumen, weichgesogen von Tau und Tränen. Die Bewohner hier sehen wie auf pflanzliche Nahrung umgestiegene Vampire aus. Ich seufze und bin froh: es gibt mich noch nicht, es gibt mich noch nicht. Solang es mich nicht gibt, könnt ihr nichts von mir erwarten! Ich wollte euer Werkzeug nicht benutzen und deshalb ist auch kein Werkzeug aus mir geworden und ich hänge omnipotent und rund und glücklich, fast glücklich, in einer grauen Straße einer langweiligen Stadt herum und warte auf Zufälle, die mir eine Substanz, eine Identität geben könnten.
So vieles ist unannehmbar, so vieles ist untragbar! Hört auf Euch zu viel zuzutrauen! Lasst die Kompromisse, lasst die Zweckbündnisse! Ihr seid nicht glücklich genug, um Krieg zu führen! Ihr seid zu einsam und hoffnungslos, um alles auf eine oder zwei Karten zu setzen! Macht Euch nichts vor! Und wenn, dann übertreibt es derart, dass Eure Lebensgeister durchdrehen und Eure Augen immer größer werden! - Das Bewusstsein kocht wie durchsichtiger Honig hinter unserer Stirn, die grelle Turbine der Nacht wiegt uns in Hoffnung. Die einzige Substanz, über die unsere Ekstase verfügt, ist unser Körper. Indem wir übersteuern, verwirklichen wir uns als vollständiger Körper.
Die Vergangenheit ist nur noch Erinnerung, die Zukunft reine Spekulation, die Gegenwart dazwischen ist der fiktive Handlungsraum unseres fiktiven Ichs: indem wir die Gegenwart als nicht-existent begreifen, befreien wir uns von der Illusion eines stabilen Selbst. Im Wissen um bestimmte Ereignisse der Vergangenheit und auf eine bestimmte Zukunft hoffend fingieren wir ein Jetzt, mit dem wir uns direkt in Beziehung setzen. Wenn man aufhört, gegenwärtig zu sein, indem man sich bewusst macht, dass man sich immer nur erinnert und nicht wissen kann, was passieren wird, hört man auf, verantwortlich für seine Gedanken zu sein und plötzlich fühlt es sich völlig belanglos an, am Leben zu sein, so als sei das eigene Bewusstsein nur ein dummer Scherz der Materie mit sich selbst. Was hat mein Bewusstsein für einen Nutzen, wenn ich keinen Nutzen in der Welt habe? Warum sollte ich am Leben bleiben? Nur um ein paar Eksatsen zu wiederholen? Mein Serotonin-System ist, was mich nicht sterben lassen will: der Sinn des Lebens ist eine Frage nach dem richtigen Serotonin-Spiegel. Wir wollen am Leben bleiben, weil unser Gehirn am Leben bleiben will. Langeweile und Agressionen und Depressionen sind Folge eines schlechten Serotonin-Spiegels. Tut was immer dir auch hilft, deinen Serotonin-Spiegel oben zu halten! Ich spiele im Dezember auf einer Vernissage in der Kunstuni, vielleicht stelle ich dort dieses Buch vor, das weder einen Anfang noch ein Ende haben kann. Das Durcheinander wird großartig sein! Erfurt ist ein Ideal, dem man sich nicht beugen darf! Erfurt ist eine Depression, der man sich entgegenstellen muss! Geknickte und Gebeutelte, Kreidebleiche und Desserteure, Zurückgewiesene und Schlaflose! Versammelt Euch um die karge Flamme meiner Verwirrung, legt Eure Scham und Selbstzweifel ab, werft Eure Masken und Vorwände in den Himmel und stimmt ein in den Chor der Verdammten! Europa ist eine Behauptung und wir behaupten sie! Die Welt muss gerettet werden! Europa muss sich fangen und neue Hoffnung, neue Liebe ausstrahlen. Europa ist ein Monolith und wir geben bunte, überschwängliche, monatelange Feste, um von seiner Herrlichkeit zu zeugen. Europa ist eine Manie und wir drehen uns in ihr unserem Mittelpunkt entgegen: der Quelle unserer Kreativität und Selbstherrlichkeit.

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Im Garten meiner Aufmerksamkeit, wo Bier und Mensch mir schmecken soll, fließt Kleinstadt-Neonwerbung mit grässlich ironischem Grinsen gelb und fettig meine Stirn runzlig, bis ich mich nach deinen schwarzen Augen sehne, deinem ebenhölzernen Wahn und deinem echten Arsch. Ich fass meinen Bauchnabel an und die Nacht öffnet sich. Elektrisch verstärkte Emotionen untermalen gemütliche Ecken Dunkelheit, weiches Leder, dunkelrot flüsternde Stehlampen und den Geruch deiner regennassen Haare. Ich fass deinen Bauchnabel an und die Nacht kippt um.

16
Später sitze ich dann im Schneidersitz am Obelisken am Domplatz und atme die dreckige Luft von Erfurt ein und aus und ärgere mich, dass ich vergessen habe Kaffee zu kaufen und ein Café-Hilgenfeld-Atze spricht mich von der Seite an: "Hey Boy, sag mal, kannst du mir aushelfen? Erfurt ist grad echt trocken und du riechst ein bisschen wie jemand mit einem roten Daumen." und ich freu mich über Besuch und frage ihn: "Magst du was?" und drehe einen dicken Joint, während ich mich in die Kamera drehe und einen kleinen Vortrag halte, am linken unteren Bildschirmrand sieht man das Gesicht des immer ungeduldiger werdenden Typen. "Am besten du setzt dich erstmal im Schneidersitz an den Obelisken am Domplatz und atmest die dreckige Luft der Stadt ein und wieder aus und trinkst einen Kaffee und fragst dich, was du mit deinem Leben anfangen wirst, wo es jetzt schon einmal da ist." Ich zünde den Joint an und rauche ihn auf, ohne dem Jungen etwas anzubieten. "Besuche gute Konzerte, komm mit den Leuten ins Gespräch und frag nach Feuer und tu dann so als würdest du dich ärgern, dass du nichts mehr zu Rauchen hast und hoffe, dass dir jemand Tabak anbietet und lehne mit dem Verweis ab, dass du nur pur rauchst und dich nun auf die Suche nach dem grünen Gold machen musst und hoffe, dass sie dir vielleicht etwas anbieten oder wissen wer einen roten Daumen hat. Sie werden fragen, warum roter Daumen, die Redaktion hat ermittelt, das ist ein nur in Erfurt gebräuchlicher Ausdruck für einen Cannabinoiden: Marihuana-Konsumenten sieht man eben nicht an, dass sie welche sind und wer wie ein Kiffer aussieht, hat meist einfach eine Manie oder Depression zu bewältigen und man soll ihm da nicht im Weg stehen! Wenn du weißt, wie Gras riecht, dann folge deinem Näschen dahin und bring dort wieder die Nummer mit dem Feuer. Oder du findest einen coolen Plattenhändler oder Second-Hand-Krämer, oder stolperst am Ende der Nacht über einen süßen Graffiti-Sprayer. Am besten hast du den Leuten etwas Interessantes zu geben, schüchterne Wirrköpfe oder schwachsinnige Hinterwelter haben es schwer, in den gewissen Kreisen aufgenommen zu werden. Such dir schnellstmöglich ein interesstes Hobby und übertreibe alles derart, bis du dich aus deiner bisherigen Bestimmung wie aus einem brennenden Personenflugzeug herausgeschleudert in die manische Phase des Wolkenguckuck-Heims, wo es weder Gartenzwerge noch Schuldzuweisungen gibt, keine Vorfahrtsregeln und keine Prioritäten, alles ist gleich interessant, alles wird gründlich verarbeitet, das Gehirn läuft so aktiv wie noch nie, es ist sehr anstrengend, aber die Anstrengung lohnt sich sehr, die Umstrukturierung der Neurotransmitter führt zu neuen Einsichten und Ich-Konzepten, und nicht jeder hat die Kreativität und Intelligenz, cannabinoide Panikattacken und Depersonalisation auszuhalten, ohne verrückt zu werden. Richard Dawkins hat vorhin gesagt: "Verrückt ist man nur, wenn man seine Möglichkeiten nicht verkraftet." Ich hab es ihm in den Mund gelegt.  Es tropft noch. Nachdem ich eben alle lustigen Stellen aus dem Text gestrichen habe, kann ich jetzt mit dem Gefühl schlafen gehen, mein Image endgültig verändert zu haben." Ich zwinkere in die Kamera und geb dem Jungen die Hand: "Danke dass du dabei warst, ich hab eben meinen letzten geraucht."


Zerrüttet

1

Ein Leben in Zweifel, auf Distanz, in der Fremde, in der Schwebe, in Bewegung muss möglich und angenehm sein.

Ich fühle mich gerade so klar, so sicher, so weise, dass ich mir vorstelle, wie ich gleich mit dem Oberkörper durch den Glastisch, vor dem ich sitze krache und sterbe und für immer tot bin.

Weitsicht macht panisch. Besinnungslos werden ist die Utopie jeden Nachmittags hier. Irgendetwas Böses breitet sich hier aus und verfestigt sich seit Jahren, seit vielen, traurigen Jahren im unteren Mittelstand, erniedrigende Kleinstjobs haben uns gelehrt, wie böse der Mensch noch immer ist. Die Gemütlichkeit, aus der heraus diese Demokratie gestaltet werden sollte, können sich immer weniger Leute leisten. Wir können gar nicht panisch genug sein angesichts der gigantischen Depressionen, die auf uns zugerollt kommen.

Mir ist das Hauptproblem eben aufgegangen: die Menschen leben nicht gern genug, sonst würden sie sich gegen ihr Unglück viel leidenschaftlicher wehren.

Der Grund, weshalb viele Menschen depressiv werden: es ist so schrecklich einfach. Man muss die Dinge nur so ernst nehmen, wie sie es verdienen. Viel schwieriger ist es, die Dinge leichter, lustiger zu nehmen, zu allem eine Distanz zu halten und sich so wenig wie nur möglich zu entscheiden. Ich will irgendwo einen stabilen Platz finden, unter einem Torbogen oder auf dem Friedhof leben.

Ich träume viel in den letzten Tagen. Ich bin immer in Bewegung, an der frischen Luft, auf Reisen, in großen Hotelanlagen geistere ich herum, wie in einem Schulgelände, das ein Krankenhaus ist, in dem alle Menschen wohnen die ich bisher kennengelernt habe. Weite Straßen, sternenklare Nächte, jeder Mensch hier hat eine Funktion, alles hat eine Bedeutung, aber die führt sich nicht wie ein Holzhammer auf, der benutzt werden will, sie liegt einfach in der Luft und will wahrgenommen, aber nicht unbedingt benutzt werden.

Schwein. - Es ist deprimierend, einem adipösen, alten Fließbandarbeiter zuzusehen, wie er sich auf Arbeit mit Rückenschmerzen und Migräne und Atemproblemen abplagt, nur um ein bisschen Geld mit nach Hause zu nehmen, um sich täglich sein mieses Fressen und seine lieblos eingerichtete Wohnung leisten zu können: er lebt für seine Arbeit, er kauft Zeugs, damit er arbeiten kann, er schläft, damit er morgens wenigstens einigermaßen in der Lage ist, weiterzuarbeiten. Er leidet am ganzen Körper, aber er hat keine Wahl, er kann es sich nicht leisten, richtig zu entspannen, wochenlang am Meer herumzuliegen, leckere Cocktails zu trinken, am bunten, interessanten, schönen Leben teilzunehmen und etwas wirklich zu genießen, mit allen Konsequenzen. Nein, er ist ein kranker, dicker Hund, der sich ein Leben lang quält und irgendwann, sicherlich recht früh, sterben wird und dann ist es das für immer gewesen mit ihm.

Hier passiert nichts. - Ein Junge fällt hin und weint. Seine Mutter kommt und tröstet ihn mit einer herzlichen Umarmung, einem Kuss auf die Stirn, einem beschwichtigenden Lächeln und einer lieben, warmen Stimme: "Nichts passiert." So spricht auch mein Herz zu mir: "Nichts passiert. Nichts passiert."  Vielleicht ist es, weil es den meisten Menschen die diesen Planeten bewohnen, schlechter geht als mir, gar nicht nötig, etwas mit meinem Leben anzufangen. Der Sinn des Lebens ist, sich so sehr zu langweilen, dass man Lust hat, mitten auf die Straße zu kacken.

Der Esel. - Ich kann mir keine Bilder von Leuten anschauen ohne ihre Frisuren seltsam zu finden. Eine Frisur zu haben ist seltsam, aber unvermeidbar. Ich werfe mein Lachen wie Tannenzapfen auf mein himmelblaues Kissen und steh auf. Ich mag es wie meine Worte und mein Ichgefühl schräg nach links gekämmt werden von meinen Schwestern Dxm und Lsa. Gemütliche Monster ohne klare Funktion. Ich genieße es mir vorzustellen, wie verächtlich meine Mutter von oben auf mich schaut. Ihre dunklen Augen voller Unverständnis, sie wirft mir irgendetwas vor, sie kann es nicht leiden, wenn ich etwas mache, was ihren kleinen Horizont übersteigt. Ich knirsche mit den Zähnen. Du klingelst an der Tür. Ich mag deine süße, zarte Beschränktheit, sie bildet einen schönen Kontrast zu meiner bitteren, groben Beschränktheit, bis ich die Lust habe, eine Flagge zu hissen, die alle Leute der Stadt daran erinnert, dass die Realität dem Gehirn weit überlegen ist. Ich bin viel zu tief und bodenlos, um von einer Wahrheit oder einem Wahn gefüllt werden zu können. Gleichgültiges Zittern hält mein Leben im Reinen. Die Illusion etwas  verstanden zu haben, ist nicht nötig. Hier unten kann man keine Fragen beantworten, deshalb ist es so gemütlich. Hier ist alles verschwommen und der Beat ist stramm und munter und eine schwere Coolness kommt, sie erhebt mich, ich kann mit allem was anfangen, weil mir alles egal ist. Ich bin ein übermütiger Esel, der mit hundert Sachen einen Berg runter rennt. Das ist nicht nur ein Text.

Das Selbst steht der Selbstwahrnehmung im Weg. Deswegen verändert die Vorstellung, wie der Rausch von außen aussieht, den Rausch. Lass die jungen Schwäne in den warmen Sonnenuntergang schwimmen. Man muss sich gegen die Zukunft abschotten und auch gegen die Vergangenheit, denn ich habe manchmal das Gefühl, so zu reden und zu gucken wie meine Mutter. Wir müssen alles tun, was gut für mich ist. Das Schreiben ist, als läge ich auf der Hängematte und ließ die Füße zappeln, das Schreiben findet ganz weit unter mir statt und sobald ich mit schreiben aufhöre, fängt der Text an, sich von mir zu distanzieren. Ich schicke lange, stabile Sätze an den Horizont, ich sehe sie in Zeitlupe an der Zimmertür abprallen. Ich mag es, dass das Zimmer so hell ist, es gibt mir das Gefühl, in Sicherheit zu sein.

Ich schreibe, dass ich schreibe. Mein Schreiben lässt sich von mir kraulen, es lässt sich bürsten wie ein schwarzer Elefant sich bürsten lässt, er kommt auf mich zu und lässt sich bürsten, es ist mir erlaubt, ihn zu bürsten. "Ich mag dieses aktive, kribbelige Durchhängen, während Andere um ihre Arbeitsplätze besorgt sind.", sage ich wie ein Nachtwächter, der mit einer plüschigen Taschenlampe das Kaufhaus sicher macht. Diese Angst, völlig loszulassen... Man schreibt nur, wenn man nicht loslassen kann, man macht nur Musik, wenn man nicht loslassen kann, man steht jeden Morgen nur auf, weil man nicht loslassen kann.

Sie schwächen uns, weil sie uns Rechtfertigungen, Erläuterungen, Grundbekenntnisse abringen. Wir werden stärker, wenn wir uns nicht mehr definieren, festlegen, verständlich machen wollen. Ich verabschiede den Gedanken mit einem festen Händedruck. Der Tag ist noch jung, flexibel, gemütlich.

Regierung und Opposition kann den selben Musikgeschmack haben, ohne Lust zu haben, ihre Ansichten aufzugeben. Sie sehen anders, obwohl sie auf der selben Welle der Empfindungen schwimmen.

Schönheit kann es nur im Rückblick geben. Man kann unmöglich in etwas Schönes hier und jetzt eintauchen, man kann sich im Rückblick nur wünschen, dass man in sie eingetaucht wäre. Diese Reue macht sentimental und die Sentimentalität lädt die Vergangenheit mit positiven Schwingungen auf und deshalb erscheint sie wert, erzählt zu werden. Als Erwachsner könnte man nur Schönheit empfinden, wenn man vergisst, dass man ein Erwachsener ist, doch man kann es nicht vergessen, man kann sich nur vorstellen, was man als Kind empfunden hätte. Cannabis könnte helfen kurzfristig "mit Leib und Seele" zu vergessen, dass man kein Kind mehr ist.

Meine Hände schreiben nicht Buchstaben, sie versuchen mir zu entkommen, sie fühlen sich beobachtet: "Vielleicht finden wir, indem wir diese Knöpfe drücken, zu dem Schalter, der uns von deinem Körper trennen kann."

Ein Markt ebnet Möglichkeiten ein, in dem er zufällige Moden verfestigt, die ohne ihn gar nicht erst entstanden wären.

2

Wenn es keine Karriere gibt, die dich auf Kurs hält: versuch nicht lustig oder besonders niveauvoll zu sein. Steh hinter irgendeiner Sache oder stoße alles von dir ab, aber tu es nicht, um Andere von dir zu beeindrucken. "Ich habe keine Lust, Euch weiter zu unterhalten." So musst du stolz die Nase hoch tragen und hoffen, dass dich die Menschen, die du liebst, niemals ernst nehmen werden.

Das echte Leben spielt sich nicht im Bereich der Notwendigkeiten ab, sondern dort, wo es besonders gemütlich oder besonders aufregend oder besonders seltsam ist.

Charakterzüge entstehen, wenn man lang genug andere Menschen parodiert. Charakterzüge entgleisen, wenn man aufhört, irgendwen zu parodieren.

Je länger ich sitze, desto dümmer komm ich mir vor. Das Zimmer ist so klein und seine Wirkung auf mein Herz ist verwandt, vielleicht identisch mit dem zarten, dumpfen Schmerz, den meine zwei Daumnagelbett-Entzündungen erzeugten. So pervers es ist, sich selbst die Daumen abzuhacken, so pervers ist es, in diesem Zimmer zu sitzen und diesen Satz zu schreiben. Alles was ich der Welt hinterlasse, kommt aus meiner Unfähigkeit, über meine Bedeutungslosigkeit und Einsamkeit zu weinen oder zu lachen.

Ich habe nichts dagegen, wenn man meine Bücher als Bewerbungen für das Amt des Bundespräsidenten versteht.

Wenn ich wirklich was zu geben hätte, denke ich mir plötzlich, würden meine Freunde viel näher bei mir sein und wir hätten schon irgendwas Tolles mit uns gemacht; aber jeder sitzt im kalten, stinkigen Fett seiner eigenen, ordinären Depression (das Ordinäre macht es natürlich noch schlimmer) und holt sich auf seine Verlassenheit und Ratlosigkeit und Zukunftsabwesenheit einen runter. Ich hasse die Arroganz der depressiven, schweigsamen Nichtsnutze. Sollen sie doch fröhlich und laut ihr Nichts, ihre Angst, ihre gescheiterte Adoleszenz in falschen, übertriebenen Metaphern durch den grauen Himmel peitschen.

Es fühlt sich an, als würde mein Trotzen mir Gehirnsubstanz abtragen, besonders in dem Areal, wo mein Bedürfnis nach Würde und Selbsterhaltung produziert wird. - Ich saß eben eine halbe Stunde im Bett und hab die schwarz-gestrichne Wand angeschaut und wirklich nichts zu geben. Ich kann dem Gedanke, dass meine Freunde langsam einknicken, nichts entgegensetzen. Ich kann nur mein halbtotes Gesicht in die Welt halten.

Ich kann nicht viel mehr als diesen kleinen Stich wahrnehmen, der hinter meinem rechten Auge sitzt und all meine Hoffnung und Klarheit verbiegt und verzerrt, die ich mir mit meinen Texten versucht habe aufzubauen. Alles was ich noch sagen kann ist, dass ich mich vor meiner Hoffnung schäme, dass der Frühling irgendeine Besserung bringt.

Vielleicht hat man es geschafft, wenn man sich zu einem heiteren Lied umbringen könnte, mit einem Lächeln im Gesicht, als wäre das Leben nur eine nette, kleine Anekdote, die niemand erfahren muss.

Die Intensität des Lebens kann panisch machen, wenn es keinen Grund gibt, mit ihr etwas anzufangen. Die Wohnung macht seltsame Geräusche und manchmal glaub ich, es hat geklopft. Der Gedanke, dass gleich jemand im Türrahmen steht, den ich nicht kenne und der Augen hat, die mir etwas sagen sollen. Ein sehr schwüler Aprilabend. Meine Asexualität grenzt an Todes-Obsession. Mein Gehirn schiebt Leben und Leere beiseite - mein Ich spuckt auf alles drei. Ich habe Lust mir eine Verletzung anzutun, die mein Leben in eine ernste Angelegenheit verwandelt. Ich bin dem Zerspringen so nah und fern wie einer absoluten Selbsterkenntnis: die Zersetzung des Ichgefühls wollen und den Verlust der Selbstkontrolle fürchten. Zwischen meinen Möglichkeiten herumsitzen und Zeit vertrödeln. Panisches Nichtstun. Ekstatische Langeweile. Nordkorea zielt mit Atomraketen auf Amerika, religiöse Fanatiker morden sich durch die Wüste bis an unsere Haustür ran, jeder glaubt was, jeder hofft was. An jedem Menschen interessiert mich der Punkt, ab dem er sämtliche Ideale aufgeben und etwas Schreckliches tun würde. Diese Gereiztheit nach einer durchwachten, alkoholisierten Nacht unter Menschen ist wunderbar. Ich liebe an extremen Stimmungen, dass ich sie nicht anzweifeln kann. Wenn ein Mord endlich genau so infrage kommt wie ein echter Kuss.

3

"Na dann verschwinde ich eben von hier.", tröstet sich jeder Selbstmörder. Ich sitze am Rand eines Traumes und betrachte lüstern die Kehlen vorbeijoggender Hipster. Ich schwöre, dass Gras etwas Gutes ist, weil auch Träume etwas Gutes sind. Wahrer Widerstand muss im geheimen stattfinden. Für die wirkliche Subversion darf es keine Manifeste geben. Die Kunst hat die Aufgabe, den geheimen Widerstand zu euphorisieren.

Die Euphorie, die kommt, wenn man erkennt wie komplex und unsicher alles ist, wie schwer sich alles formulieren und bewerten lässt, erinnert uns an die Euphorie unserer Kindheit, in der wir verwirrt und hypersensibel durch die Straßen und Wälder gestolpert sind. Es ist so kalt hier, obwohl die Heizung an ist, das Tippen tut weh. Irgendwas hab ich falsch gemacht.

"Wem passe ich meinen Schreibstil an?" frage ich mich wie ein Junge im dunklen Märchenwald, der sich verfolgt fühlt.

Die Tatsache, dass das Leben endlich ist, ist nervig, denn es könnte ja auch ganz anders sein. Ärgerlich wie den Schlüssel nicht finden zu können, der vorhin noch auf dem Tisch lag, so ärgerlich, dass man schon gar nicht mehr richtig daran glauben will.

Indem ich mich zu nichts bekenne, versuche ich mich aus der Zeit zu verdrücken, einen Bogen um die Stadt, um das Universum zu machen. (Wer nicht losläuft, kann nicht ankommen.)

Ich kann ncht wahrhaben, dass mein Bewusstsein nur ein Produkt von Materie ist. Der Mensch ist ja bloß ein komplizierter Gegenstand, der sich darüber bewusst ist, was er ist: Materie, die eine Egoperspektive entwickelt hat. Wie kann man auch nur eine weitere Bewegung machen, wenn man herausgefunden hat, was man ist? Ich spüre, dass das Licht, das von draußen über meine Tastatur streicht und gegen die Brandung meines Zimmerlichts kracht, Abendlicht ist.

Geistige Instabilität ist ein aufregender Tanz der Wirklichkeit mit der Möglichkeit.

"In der Wirklichkeit kann ich mich nicht über die Wirklichkeit hinwegtrösten" - die Parole jeder alternativen Lebensform.

So wie ich auf bestimmte Glücksfälle nicht stolz sein kann, kann ich mir auch bestimmte Unglücke nicht verübeln - so erst habe ich überhaupt einen echten Zugang zu mir.

Die Überzeugung, dass das Leben eine gerade Linie ist, deprimiert mich wie das Todesurteil einen Unschuldigen deprimieren soll.

Schuldgefühle? Vergleichbar mit einem Liter Blut trinken.

"Ich bin grob und gerade, weil es am einfachsten ist", sagen und sitzen die einfachsten Menschen auf einem einfachen Thron und lachen.

Jenseits der Manie: Wahnsinn. Jenseits der Depression: Tod.

Je tiefer ich den Wahnsinn schraube, desto mehr will er in Tod geerdet sein.

Wer Selbstmord begeht, hat die Metapher nicht verstanden.

Lust + Schmerz - Angst = Widerstand

Mein Plan, einen Horrorfilm zu drehen, der sich mit dem Erwachen aus bunten, wilden Träumen in den erschreckend-sterilen, bösen Alltag befasst. Plötzlicher Schauder und Todesangst bei Routinen, ritualisierter Freundlichkeit. Hypersensibel und wehmütig in den leeren Alltag, dessen Wände kalt und dessen Sitzgelegenheiten hart sind. Der Film muss alles Genormte, Schablonisierte, Berechenbare, Ordentliche als Bedrohung, als Terror, als Vorstufe von Wahnsinn und Tod darstellen.

Lieber noch werde ich verachtet als von Leuten, die mich nicht umarmen würden, "interessant" gefunden zu werden. Ein banaler Gedanke, aber ich kaue ihn gerade und dieses Kauen ist anstrengend, aber führt zu nichts, vermutlich macht es mich nur ein bisschen älter und unbestechlicher. Irgendwann kann ich mich selbst nicht mehr mit Hoffnung bestechen - dann könnt ihr mit mir machen was ihr wollt...

Die Realität und die Welt der Worte sind voneinander abgetrennt.

Es lohnt sich nur über unangenehme Dinge ernst zu reden, denn dadurch entkräftet man sie. Die angenehmen Dinge tragen sich von selbst.

Selbstsicherheit ist immer eine Illusion, auf die man verzichten muss, wenn man sich für das Wesentliche interessiert. Sprache bekräftigt diese Illusion, wenn sie nicht schlickfattendubi. Das Keuchen des Laptops macht sich über all meine Gedanken lustig, steht im Weg wie ein bösartiges Kind, das mich nerven will.

Meine empfindlichen Ohren sind von Langeweile betäubt. Mein Telefon hat keine Lust zu klingeln, umwickelt mich mit Stille die nach frischgewaschener Wäsche riecht. So gern würd ich mich mit dir in einen Zwischenraum absondern. Ich warte darauf, dass das Telefon klingelt. Dieses Warten macht etwas in mir müde, damit etwas anderes sich durchsetzen kann: ein bitterer Zynismus, der mich von allem isoliert. Indem ich diese Isolation mich erdrücken lasse, vertiefe ich mich in meine einzige Existenz, gelange ich zum Kern meiner letzten Möglichkeiten.

Der Gedanke daran, dass ich mich in einem Weltall befinde, wird mich irgendwann vor allem, was mich umgibt, zurückschrecken lassen.

Wer sich zu stottern schämt, wer nicht in Interjektionen und Imperativen vom Frühling reden will, sollte keinen experimentellen Jazz hören.

4

Erniedrigt von jeder Situation, in der ich nicht in der Lage bin, etwas zu schreiben, so als würde ich, wenn ich nicht schreibe, auch nicht existieren.- "An wen könnte ich meine Texte anpassen?" - leuchtet eine sternenklare Melancholie aus meinem Gesicht.

Solang ich nicht weiß, dass das, was ich schreibe, gelesen wird, kann ich nur zeigen, was ich für einer bin, damit ihr abschätzen könnt, was aus mir werden wird, wenn ich mal berühmt bin. Wie führt er sich in der Öffentlichkeit auf? Das ist mit die erste Frage, die man sich stellt, wenn man sich als Verleger auf einen unbekannten Autor einlässt. Ich bin ein Mensch ohne Rucksack, mit verschwommener Vergangenheit. Es ist noch ein Glas Apfelmus und eine Packung Sonnenblumenkerne da, die muss ich jetzt aufmachen, obwohl mein unsichtbares Publikum immer leiser werdend Anlauf für einen brüllenden, giftigen Wutausbruch zu nehmen scheint. Ich stecke in keinem handfesten Beruf, ich erfülle keine Wünsche, ich spiele nicht mit Eurer Phantasie. Ich schreibe nicht durch die Brille eines Studenten, eines Künstlers, ich bin kein Gelehrter, ich bin nicht der Sohn irgendeines einflussreichen Manns, ich bin für jeden erreichbar, während ich jeden Tag alle Unvermeidbarkeiten von oben bis unten durchlebt, mich im Kreis drehe, um mich zu vertiefen und zu sehen wie die Sprache zerfällt: "Hier habt ihr meine Ratlosigkeit!"

Meine Lederjacke versteckt meine Verzärtlichung, meine Biegbarkeit, meine Instabilität. Bloß nicht zu viel blicken lassen.

Das Leben kann auch bloß ein Rummel sein, wenn du magst!

All meine Texte sind als Hintergrundmusik zu verstehen, die das Gespräch, dass der Leser während des Lesens mit sich selbst führt, beeinflussen soll. Ich will nur ein bisschen abfärben, keinesfalls von irgendwas überzeugen. Will man es wagen, mich in die Manege zu lassen? Können Krimi-Fans reale Morde kunstvoll finden? Ich kann mir vorstellen, dass ich die letzten Jahre meines Lebens im Gefängnis verbringe und ein letztes Buch schreibe.

Das Leben determiniert die Art des Sterbens. Du kannst ja mal so leben, dass du das meiste aus deinem Sterben herausholen kannst. Sammle genug Drogen-Erfahrungen, damit du weißt, unter dem Einfluss welcher Substanz zu sterben möchtest, wenn es soweit ist.

ekifft sein heißt: in einem wachen Körper schlafen. Du bist eine Negativversion eines Schlafwandlers. Du wachschlummerst. Du bist ein Träumender in einer Wachwelt, während du im gewöhnlichen Traum ein Träumender in einer Traumwelt bist. Ich würde gern meine Texte zerschnibbeln wie ein schlafloses Mädchen ihre Comic-Hefte zerschnibbelt. Führe ich nicht seit Jahren nur einen repetativen Monolog vor zukünftigen Verlegern, deren gegenwärtige Gesichts- und Sprachlosigkeit mir das Gefühl gibt, hinter Gespenstern herzusein? Oder werde ich von ihnen verfolgt? Wer ruft nach mir? Vielleicht bin ich derart unbrauchbar, dass sogar meine Unbrauchbarkeit unbrauchbar ist. Das wäre wirklich mein Ende. Die Ungewissheit, die mein Zerdenken mir freigeschaufelt hat, will keine Handlung durchlassen, die nicht aus sich heraus glüht wie ein sterbender Stern. Auf seinem Sterbebett hat mein Onkel mir gesagt: "Du hast im Leben nur eine Aufgabe: Leute zu finden, die es dir erträglich machen, ein Versager zu sein, Leute mit denen es viel mehr Spaß macht, mit Pauken und Trompeten zu versagen."

Ich spüre, wie mein Bedürfnis, zu entscheiden ob der von Cannabis geweitete Zustand oder der von Nüchternheit auf Gewohntes konzentrierende Zustand als der Hauptstrom des Lebens gelten soll, von mir davonflattert. Aufgeregtes Nirgendsein. Ich hab ein gelbes Gesicht und falle wie ein lachender, plantschwütiger Hund mit dem Gesicht in einen Eimer Götterspeise. Frei von der Fähigkeit zu unterscheiden, was normal ist und was nicht, befindet man sich in einem permanenten Rausch. Ich turne auf meinem Fleisch, auf meinem Gehirn herum wie eine fiebrige Maus auf einer Kugel Spaghetti. Du musst entscheiden, nach dem Vorbild welchen Regisseurs du deine Tage leben willst. Leg dich doch einfach auf den Boden, wenn die Bauarbeiter kommen, wie ein Kind dass nicht die Tür aufmachen will, weil es das Bad überflutet hat und nicht weiter weiß. Kooperiere nicht! Öffne nicht die Tür! Verliere jedes Verständnis für die Anderen! Es lohnt sich nicht zu verstehen, was die Anderen wollen. Wenn du nicht einsehen kannst, was hier vor sich geht, bist du erst wirklich bei deinem Körper und deinem Geist. "Die Polizei wird mich schon irgendwo hintragen, wo es WLAN gibt.", flüster ich mir ein Easylistening-Jazz-Grinsen in mein Gesicht.

Alles, was man von sich sagen kann, lohnt, manisch vertieft zu werden. Wenn man lang genug drauf kaut, fängt es zu blühen an. Dein Gehirn ist eine gigantische Sammlung von Gedanken, die Handlungen auslösen können.

"Irgendwann musst du dich stellen!", dröhnt es, schwankt es, der Atem zieht Leben in die Puppe und immer noch kein Sinn für das Ernste, komische Gesten in die Luft kraxelnd, es guckt ja niemand zu. Meines Selbst müde, steige ich in die Treppe herab. Was kann schon so verkehrt sein, mal wirklich ganz unten anzukommen? Ist es oben lebenswerter?

Ich schichte viele Ich-Fiktionen-Folien von mir in meinem Hirn übereinander. Die Durchsichtigsten kommen nicht mehr zur Geltung, wenn mein Gehirn erleuchtet ist. - Man sollte nicht für dies abstrakte "Ich" sprechen, sondern für das konkrete Gehirn im Kopf. Unser Gesicht verhindert, dass wir uns den anderen richtig nähern können.

Ein aufregendes Leben ist genau so gerechtfertigt wie ein langweiliges Leben. Ich niese über den Gedanke, dass mein Taumeln nur eine Folge meiner Einsamkeit ist.

Seltsam. Steuert meine Ich-Idee meine Finger und Hände? Was in diesem Körper kontrolliert seine Bewegung? Was in ihm schreibt diese Frage? Was in ihm akzeptiert die Musik und was in ihm hat Angst in die Musik zu stürzen oder in einen paranoiden Zwangsgedanken? Welches Lied meint es ehrlich mit mir? Ornette Coleman ist gestorben, ein schader Tag.

Wenn man nicht spüren kann, ob die Zeit zu schnell oder zu langsam vergeht, steckt man in der Zeit fest und altert nicht.

Ich weiß, dass mir Einiges bevorsteht, aber ich bin zu entspannt und skeptisch, um wahnsinnig zu werden.  Auf der Schaukel am Rand meines inneren Zauberwaldes schaukeln die schwarzen Schatten der Kinder, den die Straßenlaternen aus einer anderen Welt werfen wie einen Löffel voll Honig.

Mein Wunsch, ein hartes Lächeln gegen den weichen Ernst der Wahrheit zu entwickeln, ist der beste Freund, den ich dieses Jahr gefunden habe. Bald werde ich den Mut haben, meinen Eltern zu schreiben, dass ich sie nicht mehr liebe.

Der Morgen kommt in Schüben

1
Mein hellgrün-blaugrau-schimmernder Faulpelz
blüht in den donnernden Innenstadtverkehr,
meine Augen sind Teleskope, die ich aufspanne in der Straßenbahn
wie bunte Regenschirme zum blanken Entsetzen der Leute
Ich fordere jeden Morgen,
Herr über meine Eigenschaften zu werden,
aber niemand hört mich, also stolpere ich
in die üblichen Verhaltensmuster
ich bin feucht-fröhlich auf der Suche
nach dem vorletzten Prosecco
Niemand hat Ohren für meine unsichtbaren Pläne,
niemand Augen für meine ungreifbaren Trübnisse.
Ich knüpfe mir einen Galgen
und werfe ihn um den grauen Kummer der Welt
und kaufe mir einen veganen Kakao.
Auf weichen Teppichen durch die Stadt
aus Beton und Glas und Regenwasser
und Stein und kahlen, schwarzen Bäumen.
die plumpen Lichter am Kaufhaus geben dem
Haupteingangsbereich einen Schlachthof-Charme,
man kann sich satt und hysterisch dran sehen.
2
Ich weiß genau, wie ich mir gute Gefühle und Gedanken mache.
Ich verrate Euch nicht alles. Ich weiß auch nicht alles.
Jeden Morgen schaffe ich im Vollbesitz
meiner Zerfahrenheit diese leblose Stadt ab,
mein Sonntagsgesicht terrorisiert die
Fußgängerzone zwischen Bahnhof und Domplatz.
Ich kann meinen Sturz nicht abfedern mit Gras,
ich kann meinen Sturz nur hinauszögern.
Ich schüttel mich und schüttel mich.
Ich stehe am Anger und blinke rotgelbgrün
auf der Suche nach dem Gedankenanfang,
Hast du Lust auf frische Brötchen und Kaffee,
der dich drei Tage wach macht,
wenn du vorher einen Liter Grapefruitsaft getrunken hast?
Meine bunte Garage kommt langsam runter,
der Teppich ist weich und bietet Platz für zwölf
geschmackvolle Verlierer auf der Suche nach Licht,
der grüne Smaragd hinter meiner Stirn hält mich in Balance,
wenn ich einbeinig an der Kreuzung stehe und
darauf warte, dass das Ampelmännchen grün wird.
Alle können sehen und hören was ich bin.
Ich bin das Zentrum der Aufmerksamkeit.
Die Musik kippt gleich um, es riecht nach Blumen.
Meine Nichtigkeit macht mir schöne Augen,
vergeudete Dahlien, enttäuschte Sonnenblumen,
gelangweilte Nelken der Vorahnung.
Der Gedanke, dass ich nur ein Vorurteil bin,
lässt die Stadt ebenso ein Vorurteil sein.
Weg mit mir und weg mit der Stadt!
Wer sich mit etwas identifiziert, verliert.
Wir, die wir zu wenig Talent und zu viel Lust haben,
verschanzen uns auf dem Zauberberg, in einen Roman,
einer Landschaft, einer Musikgruppe, einer anarchistischen Partei.
Schmierige, schiefe Sätze gegen die tödliche Wahrheit.
Meine Angst vor Wespen lässt Autoreifen platzen.
Ich sammel schlechte Geister.
Viele Leute sehen so aus, als hätten sie Lust,
mich an einer Fließbandarbeit leiden zu sehen.
Manchmal grüße ich sie mit einem Pudding-Grinsen
Ich werde einfach solange kurbeln,
bis es nicht mehr geht;
bewaffnet mit unlesbaren, zarten Freunden
und tiefen Büchern.
3
Wir aufgebrachten Geister, wir Namenlosen,
wir Ausgestoßenen und Nichtsnutze,
wir Selbstmörder und Abgestochenen,
wir Geldgierigen und Gottlosen,
wir der Erlösung Bedürftigen,
wir brauchen eine Utopie, um nicht über uns selbst herzufallen.
Wir sitzen auf dem Klo und stellen uns vor,
wie wir blutigen Gulasch in die Gehirne unserer Eltern und Lehrer
und Vorgesetzten scheißen und die Sonne geht unter,
ich liege auf einer weichen Hängematte über dem Geraufer,
der Stellvertretende Ortsteilbürgermeister
paddelt unter mir durch und wir grüßen uns freundlich.
Ein lauer Sommerabend, der viel verspricht,
aber nicht viel hält: gut so,
Erfurt hat es nicht verdient, dass hier etwas passiert.
Wir befinden uns im Dampfmaschinenzeitalter,
wir müssen unsere Kinder darauf abrichten,
stundenlang an einem Fließband zu stehen.
Sie sollen so leiden wie wir gelitten haben.
Warum sollten die es besser haben als wir?
Erfurt ist ein Gefängnis
und die Freiwilligkeit, hier zu wohnen, ist die dicke, unfreundliche Wärterin.
Jeder der gern hier lebt, hat es verdient
sich hier zu langweilen und zu verkümmern.
Es ist so anstrengend, hier Sinn ergeben zu müssen.
Erst wenn der Sinn abgeschafft wird, klart der Himmel auf
und alles erscheint wie es ist: veränderbar.
4
Das Wesen dieser Stadt kannst du nicht begreifen,
nur erfahren wie die Liebe, wie das Morgenrot, wie ein Autounfall.
Hör auf dich mit irgendwas zu identifizieren.
Es gibt kein festes Zentrum, keine klaren Grenzen mehr.
Singend bin ich jemand anders als schreibend.
Der Komposthaufen zwischen meinen Ohren dampft.
Organische Lieder sind wie Teebeutel:
man kann sie an die Decke werfen und beim Trocknen beobachten.
Das Ich ist keine Substanz, keine Maschine
das Ich ist eine unendliche Collage,
die sich ständig verformt, ohne Ziel,
das Ich ist nur ein Vorurteil.
Dieses Vorurteil abzuschaffen,
die Oberfläche zu durchstoßen und
unser ganzes Ausmaß zu erfahren
ist das letzte Abenteuer, das uns geblieben ist.
5
Bunten Schaum prahlend und mit bohrenden Insekten-Augen
und glühendem Frontallappen sehne ich mir
ein neues Europa herbei,
um sicher durch den Winter zu kommen.
Europa ist ein Orchester
Europa ist eine Blumenwiese
Europa ist die Software für freie Menschen
Europa ist die Hoffnung auf ein gemütliches Leben
Europa ist ein Festival
Europa ist kollektive Euphorie
Europa ist kollektives Bewusstsein
Europa ist eine Behauptung und
ich behaupte sie eines Tages
Europa existiert in mir, lässt den grünen Smaragd hinter meiner Stirn leuchten,
der mich auf Kurs hält, wenn ich hypersensibel und neutral
wie eine weiße, glänzende Kugel durch die Innenstadt rolle
auf der Suche nach Koffein und Sensationen.
Europa gehört uns und nicht mehr unseren Eltern und Großeltern!
Sie können uns Europa und die Welt nicht mehr erklären,
wir entziehen ihnen das Recht, von Europa in ihrem Sinne zu denken.
Alles, was unsere Eltern uns beigebracht haben
ist zu funktionieren in ihrer Welt der
Automaten und Dienstleister.
Das Funktionieren ist eine Falle.
Erst wenn alle Stricke gerissen sind, kommen wir zu uns!
Bis dahin liege ich herum auf leuchtenden Straßen,
ein weißes Kopfkissen, weit geöffnet wie die Sonne,
ich liege auf der warmen Erde und bin aufmerksam
wie ein Polizist im letzten Ausbildungsjahr,
der nach nicht verkehrsfähigen Fahrrädern Ausschau hält
Hellgoldnes Regenwasser fließt
in fröhlichen Strömen aus meiner großen, schweren Gießkanne,
während schwarze Hubschrauber über mir hektische Kreise ziehen,
in deren stromschnellenartigen Melodie ich mich verfange,
die mein Herzrasen unter meine Worte knüpft
zu einem Teppich aus Geräusch und Zeit,
eine warme Decke, die mein elektrisches Gehirn umwickelt.
Es gibt hier keinen konkreten Namen,
keine konkreten Gesichter mehr.
Kein roter Faden hält hier etwas zusammen,
wenn Begriffe nicht mehr greifen,
kommt die Euphorie schneller.
In Bausch und Regenbogen stürze ich vom Dach.
"Das ist aber wenig!", sagt die Reporterin
und hält mir ein Mikrophon hin und ich nicke:
"Ja, das stimmt, Minimalismus war noch nie eine Schwäche von mir."











1

Mein hellgrün-blaugrau-schimmernder Faulpelz blüht in den großen, donnernden Innenstadtverkehr, meine Augen sind Teleskope, die ich in der Straßenbahn wie bunte Regenschirme zum blanken Entsetzen der Leute aufspanne und wieder zu und wieder auf und wieder zu. 

Ich fordere jeden Morgen, Herr über meine Eigenschaften zu werden, und niemand hört meine Forderungen, also stolpere ich in die üblichen Verhaltensmuster wie eine betrunkene Frau in ihren feucht-fröhlichen Fünfzigern auf der Suche nach dem vorletzten Prosecco in überfüllte Straßenbahnen stolpert. Niemand hört meine Forderungen, niemand hat Ohren für meine unsichtbaren Pläne, niemand Augen für meine unerreichbaren Trübnisse. Ich knüpfe mir einen Galgen und werfe ihn um den grauen Kummer der Welt, der wie eine brüllende, Strom und Gift spuckende Eisenbahnbrücke den langweiligen Sonnenuntergang verstellt. Ich öffne das Fenster, schnippe mit dem rechten Finger die Eisenbahnbrücke über den Horizont und der babywangenrosa Sonnenaufgang umarmt den hellblauen Kummer der Welt, ich schneide mir den Strick vom Hals und kaufe mir einen veganen Kakao. Eine Depression läuft wie ein dicker, wortkarger Karsten parallel zu mir auf der anderen Straßenseite und ich nicke ab und an freundlich rüber und stelle mir vor, dass ich ihm meinen kleinen Finger in seinen Arsch stecke und ich glaub, er kann meine Gedanken an meinem Gesicht ablesen, denn er biegt plötzlich in eine Seitengasse und ich verliere ihn aus den Augen. Die Depression ist auch nicht mehr das, was sie mal wahr.

Ich weiß genau, wie ich mir gute Gefühle und Gedanken mache. (Ich verrate Euch nicht alles.) Ich fahre Straßenbahn und schaue allen Menschen in die Augen und Brigitte wird von einem hochprozentigen Luftstoß auf meinen Schoß geschubst und ihre leuchtenden Ohrringe verheddern sich in meinen Haaren und wir lachen und fummeln uns auseinander. Ich habe Lust, mir von ihr die Welt erklären zu lassen, wenn sie mir dafür ein Bier ausgibt. Leider ist das einzige, was sie sagt, bevor sie an der nächsten Station aussteigt, dass sie gerade in zwölf Männer und vier Frauen gleichzeitig verliebt ist und dass man sich von niemandem etwas gefallen lassen muss, das man nicht seinem besten Freund zumuten würde und dass Liebe ganz einfach ist und Leute länger leben, die in kalten Jahreszeiten Geburtstag haben und dass sie, bevor sie einen letzten Prosecco in der allmorgendlichen Badewanne trinkt, irgendwem noch Geld schuldet.





Jeden Abend schaffe ich im Vollbesitz meiner Zerfahrenheit diese leblose Stadt ab, ich pumpe meine wohl-begründete Depression mit pflanzlichem Wahn auf, bis ich mein Herumhängen und Trübsalblasen nicht mehr rechtfertigen kann und setze ein aggressives Sonntagsgesicht auf, webe meine Anmaßungen in die unendliche Routine, die fast die ganze Menschheit für nichts und wieder nichts in Geiselhaft hat, ich starre meine tränenden Augen in den trüben, roten Bildschirm über dem Horizont, ich kann niemandem etwas vormachen, ich bin die pechschwarze Essenz eines wirren Verlierers, aufgeladen mit unglaubwürdiger, weil nicht zu rechtfertigender Zufriedenheit, die nichts wirklich abfedern, bloß hinauszögern kann; bald wird mir meine Idiotie auf die Füße fallen! Ich schüttel mich und schüttel mich, die schillernde Heruntergekommenheit meiner bunten Garage, in der auf rotem, weichen Teppich ein paar geschmackvolle Verlierer der Stadt über Coolness und Sozialismus diskutieren, spannt mir eine zweifelhafte Hoffnung zwischen meine Schläfen, im Fernsehen regt sich meine Mutter über den Bau eines Flüchtlingsheims in der Nachbarschaft auf, sie erinnert mich daran, wie sie sich darüber aufregt, dass ich den Abwasch noch nicht gemacht habe und der grüne Smaragd hinter meiner Stirn hält mich in Balance, während ich einbeinig an der Kreuzung stehe und darauf warte, dass das Ampelmännchen grün wird.

Jeden Tag schaffe ich Erfurt ab, indem ich mir bewusst mache, dass es mich nicht gibt, dass ich nur ein Vorurteil bin, auf das es nicht ankommt! Ich sträube mich mit aller Macht und Ohnmacht dagegen, dass man einen Nutzen hat von den Vorurteilen, die man über mich spricht. Es gibt mich nicht, denn ich bin weder mein Gehirn noch mein Schreiben noch meine Stimme noch meine Vergangenheit, ich bin nicht dieser Körper, es gibt nur diese Innenperspektive eines Organismus, dessen Vergangenheit er nur teilweise erkennen und dessen Handlungen er nur in etwa vorhersagen kann, er kennt halbwegs das in ihn installierte Programm, das ihm wie eine Persönlichkeit vorkommt: meine charakterlichen Eigenschaften haben nichts mit mir zu tun, ebensowenig meine körperlichen.








Hier liegt die schwarz-rote Wurzel meines Anarchismus vergraben: wenn wir, die wir kein Talent und keine Lust zu irgendwas haben, uns einfach aus der Welt zurückziehen auf einen Zauberberg, in einen schillernden Roman, an dessen unendlich feiner Komplexität wir uns berauschen. Schmierige, schiefe Sätze in einer gefährlich mittelmäßigen Stadt mit gefährlich banalen Problemen, gefährlich fader Hoffnungen. Solche Sätze von einem Jungen, der Angst vor Wespen und Hornissen und Bienen hat, der seine Mitbewohner beklaut und willkürlich Autoreifen zersticht. Ich stelle mir vor, wie ich die letzten Jahre mit einer schwarzen Müdigkeit in meinem Gesicht durch die Stadt laufe und schlechte Geister an meiner Seite versammel. Ich stehe an der Litfaßsäule im Zentrum meiner morgendlichen Träume, wir laufen auf weichen, aschgrauen Teppichen durch die Stadt aus Beton und Glas und Regenwasser und Stein und kahlen, schwarzen Bäumen, die plumpen Lichter am Kaufhaus geben dem Haupteingangsbereich einen Schlachthof-Charme, an dem man sich satt und hysterisch sehen kann.
In der Kathedrale dann bleibt die Zeit stehen, wird zu kaltem, blauem Marmor, in dem sich unsere schwarz-verschmierten Gesichter spiegeln, die trübe Verwirrung, von Störsignalen zusammengeführte Cyber-Subkultur. Irgendwann haben die, die das Internet unter Kontrolle haben, die Welt unter Kontrolle. Ich werde einfach solange kurbeln, bis es nicht mehr geht; bewaffnet mit unlesbaren, zarten Freunden und tiefen Büchern.


Bunten Schaum prahlend und mit bohrenden Insekten-Augen und glühendem Frontallappen sehne ich mir ein neues Europa herbei, um sicher durch den Winter zu kommen, bis ich über meine Sehnsucht stolpere und auf den Boden jener Realität aufschlage, in der ich nichts bewirken kann: in Erfurt kann man nur etwas bewirken, wenn man depressiv ist: die Fröhlichen werden behandelt wie Verrückte und die Verrückten wie Verbrecher. Aber mir bleibt keine Alternative als die Euphorie immer höher zu schrauben und sie mit so viel wie möglich Menschen zu teilen. Europa ist ein Ambiente-Musik-Orchester, Europa ist eine Blumenwiese, Europa ist die Software für dissoziierte Menschen, Europa ist die Wiege des zwielichtigen Humanismus, Europa ist Hoffnung der Menschheit auf ein gemütliches, solidarisches Leben, Europa ist ein Festival der Menschheit, Europa ist kollektive Euphorie, Europa ist ein kollektives Bewusstsein, Europa ist eine Behauptung und ich behaupte sie eines Tages!

3


In fröhlicher Ermangelung eines konkreten Namens, konkreter Akteure, roter Fäden und eindeutiger Dogmatik ist die Ungreifbarkeit die Grundlage jener Ekstasen, die dieses Buch wuchern ließen. Das Pathos der Abschaffung von Erfurt ist nicht fassbar, nur erfahrbar, wie die Liebe, wie das Morgenrot, wie ein Autounfall. Wirksame Opposition ist niemals sichtbar, niemals definierbar. Wir behaupten uns als fröhliches Kompost-Netzwerk, welches nur an einer einzigen Sache arbeitet: die Dissoziierung des Abendlandes, das heißt die vollständige Abschaffung der Illusion einer festen, zentralen, übergeordneten Identität. Komposthaufenmetaphern sind wie ausgedrückte Teebeutel: man kann sie an die Decke werfen und beim Trocknen beobachten.

Das Ich ist keine Substanz, keine Maschine, keine Seele: es ist eine unendlich fragmentarische Collage, ein amorphes, instabiles Gedankenkonstrukt, an dessen Oberfläche wir uns derart gewöhnt haben, dass wir glauben, wir wüssten wer wir sind und was wir uns zutrauen können und was nicht. Dieses Konstrukt abzuschaffen, die Oberfläche zu durchstoßen und das ganze Ausmaß unserer Identität zu erfahren, ist das letzte Abenteuer, das geblieben ist in einer Gesellschaft, die sich als Maschine begreift und von selbstsicheren Menschen in Betrieb gehalten werden muss. - Romantik sagen Verliebte dazu, die Armen nennen es Kommunismus oder Faschismus, der Surrealismus ist ein alter Name dafür, die Digitale Revolution ein neuer. - Wir müssen unsere Kräfte bündeln, wir müssen einen Metamenschen schaffen aus den Bruchstücken unserer manischen Entgrenzungen! Wir dissoziieren zu einer neuen, übergeordneten Kaleidoskop-Person zusammen! Wir behaupten einen Europäischen Mythos des Einundzwanzigsten Jahrhunderts, das uns gehört und nicht mehr unseren Eltern und Großeltern! Sie können uns Europa und die Welt nicht mehr erklären, wir entziehen ihnen das Recht, von Europa in ihrem Sinne zu denken. Alles, was unsere Eltern uns beigebracht haben ist, in ihrer Welt der Automaten und Dienstleister zu funktionieren. Das Funktionieren ist eine Falle. Das Funktionieren ist ein Torpedo, abgefeuert aus Angst vorm Ertrinken. - Die Gegenwart muss zerstört werden! Die linearen Mythen wurden geschaffen, um unsere Träume zu kontrollieren! Erst wenn alle Stricke gerissen sind, kommen wir zu uns! - Das Ich ist der Feind. Das Ich will mit der Europäischen Halluzination nichts zu tun haben; wir aber, wir aufgebrachten Geister, wir Namenlosen, wir Ausgestoßenen und Nichtsnutze, wir Selbstmörder und Abgestochenen, wir Geldgierigen und Gottlosen, wir der Erlösung Bedürftigen, wir brauchen eine Utopie, um nicht über uns selbst herzufallen. Wir wollen keine depressiven Mauerblümchen sein und keine selbstironischen Traumtänzer! Wir sitzen auf dem Klo und stellen uns vor, wie wir blutigen Gulasch in die Gehirne unserer Eltern und Lehrer und Vorgesetzten scheißen und die Sonne geht unter und ich schaue von Besessenheit verzerrt in die Zimmerecke und in dem Moment, in dem mir klar wird, was meine Eltern bei diesen Worten denken würden, explodiert in Kabul eine Bombe und zerfetzt süße Jungs und Mädchen und ich liege auf einer weichen Hängematte über dem Geraufer, der Stellvertretende Ortsteilbürgermeister paddelt unter mir durch und wir grüßen uns freundlich. Ein lauer Sommerabend, der viel verspricht, aber nicht viel hält: gut so, Erfurt hat es nicht verdient, dass hier etwas passiert - Erfurt ist ein Gefängnis und die Freiwilligkeit, hier zu wohnen, ist die dicke, unfreundliche Wärterin. Jeder der gern hier lebt, hat es verdient sich hier zu langweilen und zu verkümmern. Es ist so anstrengend, hier Sinn ergeben zu müssen. Erst wenn der Sinn abgeschafft wird, klart der Himmel auf und alles erscheint wie es ist: ewig wandelbar.

Warum behauptet sich Europa nicht grundsätzlich neu? Das Brüssler Europa ist ein netter Versuch einiger von Kriegsangst und Marktgläubigkeit gedrückter Bürokraten gewesen, eine heile Welt zu schaffen und ich bin einer ihrer Söhne, einer ihrer freien, ungeduldigen, zukunftseuphorischen Geister, die großschnäuzig ihren wahnsinnigen Glauben an die Menschheit in kleine, unendliche Notizbücher verstauen. Jeden Abend schaffe ich Erfurt ab, jeden Abend vergewissere ich mich meiner absoluten Abwesenheit in dieser Welt, ich bin gestriezt von absurder Dringlichkeit, die die rote Glühbirne neben mir platzen lassen könnte. Wer behauptet Europa neu? Von welchen Idealen soll derjenige, der uns Europa behauptet, erleuchtet sein? Oder lassen wir das mit Europa? Denken wir einfach wieder im völkischen Rahmen? Wollen wir wieder Hirten und Schafe sein? Ein Gedanke hält meine Hoffnung an eine grundlegende Neuordnung der Welt zusammen wie fleischfarbne Knetmasse: es ist möglich, dass wir uns alle darauf einigen, alles in Ruhe und mit großer Sorgfalt und Liebe neu zu gestalten, es ist möglich, dass sich alle Menschen beruhigen und synchronisieren. Europa ist eine Behauptung, nicht nur ein Markt oder Staatenbund. Europa ist eine Behauptung, eine fröhliche Behauptung! Wenn man nicht fröhlich sein kann, kann man kein Europäer sein. Wir fröhlichen Europäer müssen Europa gegen die griesgrämigen Kleingärtner behaupten! Deshalb müssen wir unsere Heimatstädte allesamt abschaffen! Wir fröhlichen Europäer erfinden in kollektiver Euphorie ein neues Ideal, das die Grenzen der Stadt und der Nation ebenso auflöst wie die Grenze zwischen Ich und Körper und Außenwelt und Innenwelt. Alles ist bloß Welt und man kann sie gestalten wie man will. Europa ist das blaue Zelt, unter dem wir den ganzen Sommer dissoziieren können auf unbequemen Matratzen und an kühlen, grünen Flußufern und in engen, stickigen Straßenbahnen und in nach Teppich und Kaffee riechenden Büros, in aufgeblasenen, tristen Bürokratien und auf gemütlichen Sofas mit gemütlichen Jungs und hysterischen Mädchen. Europa ist eine Behauptung und ich behaupte sie, indem ich meine Heimatstadt wie mein Ichgefühl auflösen will, damit mir das ganze Elend der Welt vor Augen schweben kann. Wir müssen uns alle beruhigen, so schnell wie möglich dafür sorgen, dass es in Europa für alle gemütlich wird und jeder Lust und Liebe gewinnt, sich darum zu kümmern, dass es in der ganzen Welt gemütlich wird. Knapp 500 Euro im Monat gebe ich aus, wenn ich jeden Abend Europa behaupte, Geld das mir Europa gibt: mein Europa: es existiert in mir, es lässt den grünen Smaragd hinter meiner Stirn leuchten, der mich auf Kurs hält, wenn ich hypersensibel und neutral wie eine weiße, glänzende Kugel durch die Innenstadt rolle auf der Suche nach Koffein und Sensationen. Viele Leute sehen so aus, als hätten sie Lust, mich an einer Fließbandarbeit leiden zu sehen. Manchmal grüße ich sie mit einem wabbernden Pudding-Grinsen, manchmal schrecke ich nur ängstlich zurück und stell mir vor, wie ich ein Haus anzünde und mich in Lachen auflöse.






"Es geht um eine riesige Summe!", ruft der Nachrichtensprecher. Gegen Franz Beckenbauer wird ermittelt und er schlendert gemütlich zum 4-Gänge-Menü einer Hotelparty und tut so, als wüsste er von nichts - was für ein toller Auftritt! Wenn man reich und mächtig ist, macht man immer eine gute Figur. Er hat sich immer großartig verkauft und selbst dieser lächerliche Korruptionsskandal wird ihm nicht die Kaiserkrone kosten. Eines Tages werde ich so reich und mächtig sein wie Franz Beckenbauer. Bis dahin liege ich herum wie die leuchtenden Straßen, ein weißes Kopfkissen, weit geöffnet wie die Sonne, ich liege auf der warmen Erde und bin aufmerksam wie ein Polizist im letzten Ausbildungsjahr, der nach nicht verkehrsfähigen Fahrrädern Ausschau hält, ich stehe am Anger und blinke rotgelbgrün auf der Suche nach dem Satzanfang, Lust auf frische Brötchen und Kaffee, der dich drei Tage wach macht, wenn du vorher einen Liter Grapefruitsaft getrunken hast?



Indem ich schreibe, können mich alle sehen, indem ich mich vorlese, können mich alle hören. Ich bin das Zentrum der Aufmerksamkeit. WAU!! Alle wollen etwas von mir. WAU!! Ich grinse und lese vor: "Wenn ihr mich grinsen sehen wollt, dann hört mir zu." Die Musik ist laut und der Kater miauzt, weil er ein verwöhnter kleiner Fucker ist, WAU! genau wie ich. Die Musik kippt gleich um, mein Brustkorb brennt, es riecht nach Blumen und der Kater miaut, weil er im dunklen Flur allein ist, WAU! niemand will mit ihm spielen, I know that feel, bro! Die Musik kippt wirklich um, WAU! und die Aufmerksamkeit der Leute bleibt an mir kleben, sie schauen einfach nicht weg! Ich geb es ja schon zu, ihr habt mich soweit und ich lese wieder vor: "Ich verwandel mich in eine Taube und fliege aus dem Fenster, weil die Musik endgültig umkippt, seht sie umkippen! WAU!" Hier verliert alles so gründlich seine Bedeutung, dass man nur noch lachen kann! Wenn ihr mich lachen sehen wollt, dann parkt Eure Autos in meinen Träumen, betet die Brüder an, die ihr nie hattet, klappt vor Überempfindlichkeit in der Einkaufspassage zusammen. WAU! Indem ich vorlese, bin ich jemand anders als der, der geschrieben hat. WAU! WAUWAU! Ich muss weg hier, meine Nichtigkeit macht mir schöne Augen und vielleicht will sie wieder ein paar Drinks ausgeben, ich weiß nicht ob ich Lust habe, meine Freunde zu sehen, die Blumen in der Vase sprechen eine eindeutige Sprache: vergeudete Dahlien, enttäuschte Sonnenblumen und Tulpen, gelangweilte Nelken der Vorahnung. Ich klatzsche meine Hände überm Kopf zusammen, das einzige was ich habe, ist vielleicht nur... meine Stimme. WAU!WAU!





4


Es ist davon abzuraten, Cannabis zu benutzen, um Depressionen loszuwerden. Es ist auch nicht ratsam, morgens Kaffee zu trinken, um wach zu werden. Es ist auch nicht ratsam, sich zu verlieben oder Free Jazz zu mögen. Ratsam ist, ein kluger, bescheidener, demütiger Arbeiter zu sein, strikt die Gesetze zu befolgen und sich immer die Schuhe auszuziehen, wenn man zu Besuch ist und Zähneputzen niemals vergessen und nie etwas riskieren, denn es steht sehr viel auf dem Spiel! Das sind die Werte, in die der Gesellschaftsvertrag getränkt ist, den wir mit unserem ersten Schrei im Krankenhaus unterzeichnet haben. Cannabis ist eine Pflanze, die langsam und wirr macht, sie weicht die Grenzen deiner Persönlichkeit ein. Wenn du nicht depressiv bist, will sie dich manisch machen, wenn du übermäßig viel rauchst und dann plötzlich an nix mehr rankommst, weil die Stadt grad trocken oder dein Konto leer ist oder du einfach keine Lust mehr darauf hast, weil du mit der Überempfindlichkeit nichts anfangen kannst oder glaubst, abzustumpfen, kann es passieren dass du ein paar Tage durchhängst. Wir befinden uns im Dampfmaschinenzeitalter und müssen unsere Kinder darauf abrichten, stundenlang an einem Fließband zu stehen.

Manchmal lädt Cannabis bloß Nebensächlichkeiten oder Langweiligkeiten mit Brisanz auf, statt wie oft behauptet wird, das allgemeine Erkenntnisvermögen zu steigern. Manchmal glauben wir tief in einer wahren Empfindung zu verschwinden, manchmal gehen wir nur einem sentimentalen Klischee auf den Leim.

Ich kenne so viele, die Gras nicht vertragen, besonders jüngere, die den ganzen Tag nichts machen und Trap hören und sich in der Nase popeln und ein Selfie davon machen und bei Instagram hochladen, gute, wunderbar entspannte, selbstreflektierte, sexy Jungs, die einfach ein bisschen in der Hängematte des Staates baumeln wollen und damit den anerzogenen Leistungsdruck aus den Knochen sich meditieren, womit sich im Frühling, wenn die alten Kräfte wiederhergestellt sind, neue Möglichkeiten eröffnen. "You can never hold back spring", singt Tom Waits, hellgoldnes Regenwasser fließt in fröhlichen Strömen aus meiner großen, schweren Gießkanne, während schwarze Hubschrauber über mir ihre hektischen Kreise ziehen, in deren stromschnellenartigen Melodie ich mich verfange, die mein Herzrasen unter diese Worte knüpft wie unter einen Teppich aus Geräusch und Zeit, eine warme Decke, die mein elektrisches Gehirn umwickelt. - "Das ist aber wenig!", sagt die Reporterin und hält mir ein Mikrophon hin: "Ja, das stimmt, Minimalismus war noch nie eine Schwäche von mir."


In letzter Zeit sehe ich rot-leuchtende Umrisse von wütend-schreienden Gesichtern in der Dunkelheit aufblitzen, manchmal erschrecke ich vor ihnen. Ich gehöre ganz sicher zu denen, die Gras nicht vertragen. Ich liebe es, umzukippen, ich liebe es in Bausch und Regenbogen vom Balkon zu stürzen, nur um die eilig zur Hilfe Nahenden mit einem kräftigen Händedruck zu begrüßen. "Danke sehr! Danke sehr!" - Yeap. Yeap. Ich bin ein harter Typ, ich bin reich und mächtig und unglaublich hart, ich bin der Kapitalismus. Mein Mittelfinger kitzelt dir, altes Europa, schamlos an deinem Arschloch herum, so wie ich meinen Cousin früher angeschwult habe, wenn er seine sozialistische Gesinnung hervorblicken ließ, also wenn er sich ernst genommen hat: es hätte nicht bei sexueller Nötigung bleiben sollen, ich hätte ihn wirklich mal zur Strafe für seine Weichheit ficken sollen, sein Widerwille wäre genau so künstlich und halb spaßig wie seine läppischen Schläge, mit denen er mich von sich losscheuchte, als ich ihm an seinem Arsch herumfummelte. "Wir hörten Jazz Musik und drehten an all unseren Knöpfen.", flüsterte ich an die Schlafzimmerdecke starrend und er liegt neben mir und lacht. Yeap, Europa ist definitiv reif dafür.