Eine Störung

I

Das Morgengrauen kriecht über die Stadt, so banal wie das Öffnen eines Garagentors, so gefährlich wie ein Junge, der seine Einsamkeit nägelkauend im Griff hat; sein Lederjacken-Panzer, seine von Schlaflosigkeit verdunkelten Augen, die Zärtlichkeit einfordern, seine dreckige, arrogante Schnute und die blaugraue, gleichmäßig verbitterte Stadt, die Knochen bricht, die die Einsamkeit der Einsamen beharrlich vergrößert; hier träumen alle das selbe, hier haben alle das selbe mit ihrem Leben vor, hier schaut sich niemand in die Augen; die Alten sind bösartig gegen die Jungen, die Armen bösartig gegen die Allerärmsten, die Ungebildeten bösartig gegen die Empfindlichen, traumlose Arbeiter gegen arbeitslose Sensibelchen, Trampeltiere gegen unglücklich Verliebte; jeder trägt Wunden, jeder identifiziert sich mit seinen Narben und Narben sind zum Aufkratzen da und zum Aufkratzen ist die Kunst da und für die Kunst sind die Künstler da, und fleißige Schnapsleichen sammeln sich Würde-Reserven aus den Mülleimern, an Volk und Ehre glaubende Kampfhund-Besitzer würden sich am liebsten von süßen Kinderärschen ein paar Scheiben abschneiden; ein gewöhnlicher Mittwoch, in dem bleiche Sonntagsgesicher fordern, in Ruhe gelassen zu werden, um so zu wirken, als könnten sie dieser Stadt etwas Genießbares abgewinnen.

Erfurt, mein Monolith, Erfurt, mein Mitbewohner, Erfurt, meine Karriereleiter, Erfurt, meine Ergotherapie, Erfurt, mein Galgen.

Der routinierten Hektik im Schlachthof des Stadtzentrums bin ich zum Glück nicht gewachsen, ich steh daneben und fühl mich erleuchtet von meiner Überforderung mit der Innenstadtmaschine, in der alte Menschen unauffällig und junge reich und berühmt sein wollen und Polizisten stehen überall und sehen fast alles und dürfen fast alles und flüstern und sind misstrauisch und tragen Maschinenpistolen und zeigen dich wegen Beleidigung an, wenn du ihnen sagst: "Sie sind ein echter Fuchs!" oder ihnen betrunken zurufst: "SO SEHEN GEWINNER AUS!" Wie können wir Leuten erlauben, Schusswaffen zu tragen, die sich von sowas provozieren lassen? Anyway, tu einfach so, als hättest du nichts zu verbergen, du musst so tun, als hättest du keine Angst.

Und ein Stachelschwein sitzt im Hinterhof und ich bin hypnotisiert von der Vorstellung, dass in ihm ein Herz pocht, um den Körper und damit sich selbst am Leben zu halten und ich lege mich in die graue Wiese und schaue in die zerfledderten Vormittagsbäume, die mich an eine bestimmte Lust und Liebe erinnern wollen, die alle Menschen in sich verbergen und ich plane den Tag: wem soll ich heute in die Quere kommen? Wem soll ich heute etwas vormachen? Wer kann mich heute sanft und zärtlich enttäuschen? Mit dem Fahrrad bei rot oder grün über die Ampel, bekannte Leute freundlich grüßen oder versehentlich oder absichtlich ignorieren, noch einen Kaffee oder noch einen Espresso? Erst aufladen und dann abhetzen. - Meine Lebensgier greift meine körperliche Substanz an, während alle anderen hoffen, dass ich nur ein Toastbrot-Held, nur eine Erbsensuppen-Schwuchtel bin und das Milchzahn-Gebiss meiner Libido an der bordsteinfarbnen Wirklichkeit scheitert.

Guten Morgen, Erfurt!
Schau mich nicht so an,
du gehörst nicht zu mir
und ich gehöre nicht zu dir. 

Ich bin nicht bloß hinter der Haut, in der ich stecke, sondern auch in allem, was ich getan habe und in allem was ich tun werde, also frag mich nicht, was ich bin und was ich soll. Niemand lebt allein für sich, niemand ist immun gegen sein Umfeld. Alles was man tut, beeinflusst alles und jeden. Ich bin und bleibe immer dabei. Je empfindlicher man ist, desto komplizierter wird alles, und je komplizierter alles wird, desto mehr Gelegenheiten ergeben sich, sich zu verlieren: was könnte man mehr von seinem Dasein in einer so tristen Stadt verlangen?


II

Mein Herz ist ein Vulkan, der all meine Bewegungen frisst.

Die Gemütlichkeit meines Bettes ist keine Auszeichnung.

Vielleicht werden wir immer isoliert bleiben. - Psychedelische Problemlösung: übertreiben, was das Zeug hält. - Nie etwas entscheiden und nie ehrlich mit der Umwelt interagieren, wenn du nicht von irgendetwas derart erregt bist, dass du nicht mehr weißt, wer du überhaupt noch bist.

"Ich sollte das Schiff wechseln!", will mir jemand einreden, er schaut mich voller Sorge und Missgunst an. Er würde mir niemals verraten, was genau er mit Schiff meint. "Dafür würde ich morden!" Seine blanke, geschmacklose Sucht nach ETWAS lässt seine Ufo-Augen azurblau aufleuchten.

Die Wirklichkeit ist so filigran wie deine Nackenhärchen. Alle Menschen haben feine Nackenhärchen. Die Niedergeschlagenheit, die über mich kommt, wird gewaltig sein. Zum Glück steht nicht absolut fest, was man mit Leuten, die man ekelhaft findet, gemeinsam hat.

Frei ist, was nicht durchdacht ist.

Wenn man sagt: "Dieses Kunstwerk finde ich schlecht." sagt man damit eigentlich nur: "Dieses Kunstwerk kann ich nicht ernst nehmen." und meint "Dieses Kunstwerk will ich nicht ernst nehmen." und wenn man darüber noch glücklich ist, wird man niemals eine andere Perspektive einnehmen.

Du bist ein Gegenstand in der Natur. Lässt sich aus deiner Orientierungslosigkeit ein Staat machen? Bist du eine biologische Maschine oder willst du bloß eine sein?

Vom Staunen und Irritiertsein schlaflos gewordene, ambitionierte, respektlose Sparkassengesicht-Versager werden kälter, transparenter und verlieren den Anschluss. Niemand vermisst sie: das ist ihr Vorteil. Pessismismus ist ein warmer Novemberregen.

Plötzlich tut das Nichts so, als wäre es der größte, coolste, giftigste, rotleuchtendste Käfer in der ganzen Stadt. Fettgefressen von der Faulheit und Langeweile meiner Mitbewohner, lauert er meinen Butandiol-Entgleisungen auf.

Einzig rettender Gedanke auf lauten, langweiligen Partys: "Ich kenne keinen hier und keiner kennt mich." Es ist so beruhigend zu sehen, dass die Befremdlichkeit auf Gegenseitigkeit beruht. Für die Meisten bin ich ein Fremder - und nur die Rampensau in mir hat damit ein Problem. Die Distanz zwischen mir und den Anderen ist unüberwindbar und genau deshalb ständig im hellsten Licht meiner höchsten Aufmerksamkeit.

Leiden ist besser als überhaupt nichts mehr mitzubekommen. Je älter man wird, desto weniger versteht man das.

Ganz bestimmt hängt der Wunsch, jemanden zu küssen, mit der Erkenntnis, dass das Leben nicht ewig ist, zusammen. Musik festigt diesen Zusammenhang.

Depressionen sind kein Grund, depressiv zu sein.


III

"Ihr seid doch verrückt!", sang das bunte, schöne Volk uns nach."Wollt ihr wirklich die Reise antreten?", lachte die dicke, schöne Bäckerin."Wir wussten, dass ihr uns eines Tages zurücklassen werdet!", jubelte der warme, schöne Großvater - und erst als uns keiner mehr nachgewunken hat, hatten wir das Gefühl, auf unserem Kurs zu sein und als unsere Metaphern ausgingen, kamen wir nie wieder zurück.

Ich spüre mein zukünftiges Publikum, ich spüre wie ich verstanden werde, mich in eine Eidechse verwandel und mit einem schwarzen Biss den Bundespräsidenten vergifte. Das ganze Land wird ihm unter meine Bettdecke folgen.

Ich kann für diese harte, unruhige, langweilige Stadt nur Liebe empfinden, wenn ich mit Freunden an der Hauptstraße Cannabis rauche: das ist weder ein Einwand gegen die Stadt noch gegen die Droge. Beides existiert, beides kann kombiniert werden. Am besten pur, am besten bio, am besten von Kennern empfohlen.

Wer etwas gegen Drogen sagt, muss auch etwas gegen Musik und Liebe und Träume und Obst und Gemüse sagen. Es kann doch nicht verboten sein, sich Zustände zu verschaffen, die bestimmte Handlungen innerhalb geltender Gesetze genießbarer oder bestimmte Situationen erträglicher machen oder bestimmte Genüsse und bestimmte Einsichten vertiefen können. Also wenn es legal ist, in der Badewanne zu liegen und Brahms zu hören, kann es nicht verboten sein, Substanzen zu nehmen, die die Intensität des Badens und Brahmshörens steigern. Drogengesetze zwingen, von der Flora und vom Gehirn einen sehr beschränkten Gebrauch zu machen. Sie zwingen, die Welt auf eine bestimmte Art und Weise wahrzunehmen. Sie zwingen, bestimmte Aspekte zu ignorieren. Sie sagen: "Schau da nicht hin!", "Geh nicht dort hoch!", "Bleib hier!" Sie kontrollieren Stimmungen und Erfahrungen und damit Möglichkeiten. Ich verstehe, warum Kurt Cobain und William S. Burroughs zusammen Tee getrunken haben.

Wir sitzen in der Badewanne unseres Lebens und wissen plötzlich, dass es nicht darauf ankommt, sauber zu werden, sondern mit der Quietschente zu spielen.

IIII

Ich "bin" alles, was mich hemmt, ganz anders zu "sein".

Wer Fragen beantwortet, kippt auch abgekühlte Ofenasche auf die ersten Schneeglöckchen und Krokusse des Jahres.

Die Tatsache, dass ich meine Eltern nie so wütend angeschrien hab wie sie mich, hängt mit meiner Unfähigkeit zusammen, traurige Texte zu schreiben, so wie mein Bestreben, mein Ego zu verlieren, etwas mit dem Ekel zu tun hat, den ich vor mir empfinde, wenn ich meine Freunde belüge.

Du brauchst manische Freunde, und falls du kein Glück hast welche zu finden, können bestimmte Drogen sie ersetzen. Finde heraus, welche! Alles ist gut, was deine Energie mehrt. Du bist niemandem etwas schuldig.

Je sensibler man wird, desto besser kann man sich manipulieren.

Wer sich irren will, bekommt mehr mit als jemand, der sich nicht irren will.

Mit wem wollen wir die Zeit rumkriegen? Mit wem wollen wir unser Vergammeln dekorieren? Mit uns! Mit uns ganz allein! Die Anderen sind nicht mehr als die Helfer und Helfershelfer unserer egomanischen Utopie. Die Alternative wäre: Alle lassen sich gegenseitig komplett in Ruhe: die Hölle.

Ein "guter" Musiker ist der, dessen Ohr nicht nur das Ohr, sondern auch das Auge des Zuhörers sensibilisiert.

Die Unmöglichkeit, meine Cannabistexte zu strukturieren, ist einer ihrer zentralsten Gegenstände, ebenso die Unmöglichkeit, diesen Gegenstand objektiv zu bewerten.

Nicht, wer mich im Griff hat, interessiert mich, sondern wie ich mit der Panik umgehe, die die müde Erfahrung meiner Nichtigkeit nötig macht. Ich würde sie gern euphorisch bis ins Unendliche steigern: glühendes, flatterndes Nichts.

Ich kratze - trunken von unendlichen Assoziationen - alte Wunden auf und finde nichts. Ich bin eine Nostalgie-Maschine. Ich esse die Döner-Reste, die jemand auf der Parkbank liegengelassen hat und will ein echter Dichter werden. Ich furze in fremde Betten, ich stinke alles voll mit meiner Biologie, die große Augen macht. Meine Handschrift verändert sich, weil die Musik umgekippt ist. Ich möchte meine Verklemmtheit von vollkommenem Fieber aufbrechen lassen, den strahlend-weißen Kirschbaum an der Friedhofsmauer schütteln.

Es bleibt jedem selbst überlassen, welche Knöpfe er drückt. Deshalb fühlt er sich frei. Wirklich frei wäre er nur in einer Welt ohne Knöpfe. Was willst du aus deinem Leben machen? Passt das in einen Beruf, den es schon gibt oder musst du einen eigenen erfinden?

Alles was du von dir weißt, ist auf ganz brutale Art und Weise wahr. (Wäre schön, wenn ich diesen Satz in eine blaue Blume verwandeln und auf die Fensterbank meiner Freunde stellen könnte.)

Alles ist ein Gegenstand.

Realität ist das Zwischenprodukt eines neuronalen Stoffwechselprozesses. Unser Gehirn scheißt und frisst unser Ichgefühl. Unser Körper ist das Klo und unsere Umwelt ist die Klärgrube.

Der Tod ist eine Erfindung der Werbeindustrie.

Je weniger ich mich spüre, desto berühmter will ich werden.

Du solltest dich nur noch mit Leuten befassen, die du gern anfässt.

Wir hassen jeden, mit dem wir nicht so umgehen können, wie wir es wollen.

Ich möchte von allen Menschen verstanden werden, also muss ich mein Ego auflösen. Ich muss einfacher und transparenter werden. Es ist ein Wahn, ein starker Wahn: er ist mein Schlittenhund, er entscheidet alles.

An all unseren unberührbaren Vorbildern erkennen wir, nach welchen berührbaren Freunden wir uns sehnen. - Vorbilder, die nicht rechtzeitig in die Werkzeugkiste zurückgelegt werden, verwandeln sich in Geister, die Götter werden wollen.

Wir hocken auf riesigen, grauen Treppen vor der Kathedrale des Sonntags, verdichten größenwahnsinnig unsere Kraftlosigkeit, trotzen maskiert dem nackten Wind, lesen uns im Internet eine Identität an und wieder ab und wieder an und wieder ab, schalten zur Abwechslung den Fernseher aus und wieder ein und wieder aus und wieder ein, ketten nüchterne Momente und warme Cannabis-Vertiefungen endlos aneinander und posaunen in dunklen, langezogenen Tönen in unsere Unterwelt: "Heterosexualität ist eine Herrschaftsideologie!" oder sitzen insomnisch-grau auf einer Parkbank und schwelgen verzerrt von Überforderung in der Gewissheit, dass alles sich zu unseren Gunsten entwickeln wird, während im Gebüsch neben uns eine von einem Auto angefahrene Katze unter extremen Schmerzen verblutet.

Je weniger man mitbekommt, desto fester sitzt man in seinem Sattel. Die Ausbrechung, sie wird immer weicher / die Zerreizung über alles! )( Mein Ich ist ein Schaufenster )( Ohneschlaf ein Pflasterstein. - Ich kann nur predigen, wenn ich niemandem in die Augen schaue. §§§§ ich wachse und verhärte _ auf Kosten meiner Melodie. - ich verdichte meine Texte wie meinen Freundeskreis.

Die Kunst will, dass du mit ihr verschwindest.