Sexualität

Der Kaffee hinter meiner Stirn macht mich empathischer, deshalb trinke ich auch zwei Liter, bevor ich die Tagesthemen oder das Nachtmagazin schaue oder bevor ich über Sexualität nachdenke.

Ich sehe keinen Sinn darin, mich Anfang Dreißig als Mann zu bezeichnen: was von einem Mann erwartet wird, hat nichts mit mir zu tun, auch wenn ich manches erfüllen könnte, auch wenn ich Nachteile habe, weil ich mehr von mir erwarte als das, was ich meinem Penis nach leisten müsste. Ich habe einen Soldaten in mir, einen Räuber, einen Sadisten, einen Rauschgiftsüchtigen, einen Schriftsteller: sie stehen alle in einem großen Raum und reden durcheinander, meine beste Freundin zieht sich nackt aus und räkelt sich auf meinem Bett, meine Verlegenheit löst einen butterweichen Schwindelanfall aus: ich werde niemals in meinem Leben in eine Vagina ejakulieren. Das ist eine schöne Erkenntnis: ich muss mich nicht daran festhalten, wenn ich nicht will. Der Soldat in mir möchte ihren Arsch ficken, der Räuber in mir ihr Jungfernhäutchen fressen, der Sadist ihr die Fingernägel rausziehen mit einer Kneifzange, einen nach dem anderen. Aber ich? Demien Bartók ist kein Mann: er tut nichts männliches, und er ist keine Frau, denn er tut nichts weibliches.

Jakob sagt, einen Jungen zu küssen ist etwas weibliches und macht aus dem Küssenden ein Weibchen. Aber das gilt ja dann auch für den anderen Boy, also verwandelt er sich auch in etwas Weibliches, demnach küssen sich zwei Girls, wenn sich zwei Boys küssen? Hä? Jakob hat keine Lust darüber mit mir zu reden, wir stehen vor seiner Wohnung, er findet seinen Schlüssel nicht und klingelt und keiner macht auf, wir klettern durch den Grobmüll im dunklen Hinterhof, vielleicht ist die Hoftür nicht richtig ins Schloss gefallen. Doch sie ist. Jakob klettert auf der am Geräteschuppen angelehnten Leiter in den ersten Stock: „Ist das jetzt männlich von dir?“, frage ich. Er wirft ein rotes Kissen nach unten, verfehlt mich ganz knapp, „Mach die Tür auf, ich bin müde.“

Wieviel Gründe gibt es eigentlich, sich zu küssen? Wieviel Gründe gibt es, miteinander zu masturbieren? Ich würde gern deinen Hals küssen, wenn du kommst. Das ist für dich natürlich kein Ersatz für Sex mit einem Mädchen, und das soll es auch nicht sein, das hier ist etwas ganz Anderes, eine seltsame Grenzüberschreitung, die dunkle Lustgefühle freisetzt, die ähnlichen die entstehen, wenn man seinem Cousin einen bläst oder sich aus Langeweile in die Hose pinkelt. Ein Ursumpf der ersten und letzten Dinge, ein Inzest mit den Sternen, eine absolute Missachtung sämtlicher Anstandsregeln: Sex mit dem besten Freund, aus Liebe, zum Zeitvertreib, weil es seltsam ist und deshalb wert getan zu werden. Du definierst dich ja als richtiger Mann: der muss ab und an seinen Schwanz in eine Muschi stecken. „Sie muss nicht schlau sein, Hauptsache, ich krieg einen hoch.“

Ich habe keine Lust auf eine Beziehung, in der Sex im Mittelpunkt steht: eigentlich kann ich auf Sexpartner verzichten, die nicht meine besten Freunde sein können, fuck, alles könnte viel einfacher sein, wenn wir die Art und Weise unserer Beziehung genau definieren, mit all den Grenzen und Erwartungen, mit all den notwendigen Ekelgefühlen, all den vermeidbaren Besessenheiten. Mein erster Grundsatz wäre: nimm dir von Anderen, was ich dir nicht geben kann. Hab so viel Vagina wie du willst, solang du mich liebst, ist alles süß für mich. Ich interessiere mich für keine monogame Homo-Beziehung: ich habe absolut nicht das Bedürfnis, heterosexuelle Beziehungsmodelle zu adaptieren: warum keine befristete, polygame, bisexuelle Best-Friend-Beziehung in der immer Raum für neue Möglichkeiten ist, Zusammenleben gemütlich und tiefgründig zu machen. Willst du wirklich mit einer Frau, einer einzigen Frau für viele Jahre in einer Zweierbeziehung darauf warten, dass die Luft rausgeht oder hoffen, dass die Luft nicht rausgeht, bevor sie rausgeht? Ich bin wirklich kein Mann, ich bin ein neo-pubertärer Clown in einer Sackgasse, in der gute Musik läuft: PIECES OF STRING von Alela Diane.

Willst du dir wirklich eine Peitsche kaufen? Ich glaube du weißt, was du tust. Wieviel Gründe gibt es, sich nicht zu küssen? Wieviel Gründe gibt es, nicht täglich miteinander was anzustellen? Vielleicht kann man nur in einer solchen außerordentlichen Gemütlichkeit zusammen etwas Großes erschaffen: in den letzten Monaten bin ich langsam ins Erfurter Kulturleben geschlittert, mein Freundeskreis wächst ständig, die Leute mögen meine Songs und ein Grund, diese Stadt nicht zu verlassen ist, dass hier einige großartige Musiker wohnen, mit denen ich gut bis sehr gut befreundet bin, solche die die Musik ernster nehmen als sich selbst, die nicht prahlen müssen, die niemanden beeindrucken wollen, die sich für Menschenrechte engagieren, die aus psychedelischen Urlauben politische Manifeste mitbringen, die Songs gegen die Tyrannei der Nüchternheit schmieden, Waffen aus Schall gegen die unsichtbare Macht der Gefühls-Bürokratie. Kollektives Auf-Dem-Teppich-Ausrutschen. Du gehörst dazu wie Winkler, Stefan, Hank, Jungleduke, Franziska und Sahra. Ich werde nicht darüber hinwegkommen, dass sie dich küssen durfte und ich dich nicht. Wie soll ein Schriftsteller damit umgehen? Kapitulieren! Die Niederlage feiern mit Substantiven und Verben, hoch sollt ihr leuchten, geliebte Worte, was wäre mein Bewusstsein ohne euch! Ihr kleinen Teufel, ihr verwirrenden, ungerechten, missverständlichen Narren, Illusionen meiner Vernunft! Ich kann mich nicht aus meinem Unglück befreien, aber ich kann davon singen, ich kann mein Elend bezeugen, ich kann es hinnehmen und gut heißen.

Ich wünschte ich könnte ein Buch schreiben, das Menschen, die sich als heterosexuelle Männer definieren, bisexuell macht; ich wünschte ich könnte einen Song schreiben, der meinen besten Freund so manipuliert, dass er mich küssen will. Ich will neben im einschlafen, ich will von ihm träumen, ich will neben ihm wachwerden, ich will mit ihm wichsen, ich will mit ihm frühstücken, ich will ihm einen Abschiedskuss geben, ich will ihn den ganzen Tag nicht sehen, weil ich mich aufs Schreiben konzentrieren muss; ich will dich zufällig in der Stadt treffen und kein Eis mit dir essen. Du sagst mir, dass du mich wirklich liebst und ich küsse dich. Ich schau in deine transilvanischen Augen, ich spüre, dass unsere Leben fest und dauerhaft miteinander verbunden sind, mehr muss ich nicht wissen, ich küsse dich nochmal und nochmal. Der erste Kuss ist immer nur ein Test. Der zweite ist intensiver, mutiger. Der dritte gierig, der vierte ist mehr ein vulgärer Biss, der fünfte endlich familiär und entspannt: die nächsten Küsse machen mich immer sehr trunken, wie betäubt von Gier bin ich glücklich, dass du hier bist, ich wäre geringer, wenn du nicht hier wärst; mit dir macht alles mehr Sinn, nichts ist mehr langweilig, über manche Dinge reden wir besser nicht mehr heute, ich lieb dich. Ich puste den Tag wie eine Kerze aus und krall mir deinen Körper, dein Schlafanzug ist so kuschlig, wir dämmern langsam ein, es ist kurz vor fünf Uhr morgens, die Vögel beginnen die blaue Dämmerung zu begrüßen, die Autos verschnüren die Straßen mit Lärm und Gestank, wir haben die Fenster geschlossen und hören Wasserfall-Rauschen in Endlosschleife. Wie könnte man besser den Fragen aus dem Weg gehen, die keiner beantworten will?