Lächelnd stolpern

1
Wer sich und die Welt nüchtern ertragen kann, ist entweder masochistisch, dumm oder von Gott oder dem Teufel gesegnet; mein Ekel vor der deutschen Feierabend-Kultur ist größer als meine Lust, betrunken zu sein. Ich zähle eins und eins zusammen und spaziere über den Zebrastreifen. Ich sehe keine echte Lebensfreude, keine brauchbare Weisheit in den Säufern, die in der Stadt herumgrölen, auf den Sitz der Straßenbahn kotzen und auf der Parkbank zusammensacken. In diesem Sommer habe ich ein fast infantiles Faible für coole Menschen entwickelt, für entspannte, erhabene, selbstbewusste, sensible, liebevolle, genießerische Typen, die Haltung zeigen bei allem, was sie tun und nicht tun, die mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gehen, die freundlich zur Kassiererin sind, die vorsichtig und unaufhaltsam irgendetwas Interessantes mit ihrem Leben anstellen, die vielleicht mit beiden Beinen in der Ausweglosigkeit stehen, aber stolz und von feinstem Trotz verzärtelt, voll wilder Hoffnung und bedingungsloser Liebe. Ich finde solche Jungs in heruntergekommen Proberäumen im Gewerbegebiet, unter riesigen, dunklen Trauerweiden des Luisenparks, in verrauchten Ecken unsichtbarer Jazzkneipen und im Schneidersitz auf dem Angerbrunnen und keiner von ihnen säuft, keiner von ihnen fühlt sich betrunken glücklicher, schöner, stärker, ehrlicher. Einige von glauben ihrem künstlerischen Schaffen mehr als sich selbst, viele erheben und entspannen sich mit Marihuana, ein paar von ihnen sind völlig zerrüttelt von Angst und Selbstzweifel und haben wirklich nichts, woran sie sich festhalten können und niemanden, an den sie sich wenden können, aber keiner von ihnen glaubt an Alkohol und ich habe Lust sie alle zu küssen und mit ihnen wie eine Hyänen-Herde in die Abend-Dämmerung zu verschwinden und die Stadt umzukrempeln.

2
Augen. - Wie ernst kannst du den Gras-Rausch nehmen? Das Papier wirkt nass, dabei ist nur die Luft feucht. Kann ich mich nochmal wie vorhin in die Angst reinsteigern, niemals mehr normal reden zu können? "Du wirst nie mehr richtig reden können!" (Diesen Satz mehrmals lesend, laufe ich durch den schönen, grauen Park, in dem es eben noch geregnet hat, aber er zündet nicht mehr, weil ich nicht weiß, wie ich ihn genau formulieren soll. Als ich das, was er ausdrückt, nur gefühlt habe, war ich überzeugter. Jetzt, wo ich ihn ausformulieren will, versackt der Inhalt in eine peinliche Banalität. Ich komm mir so alt und schwerfällig vor.) Nun renn doch nicht gleich weg, man kann doch über alles reden. Ich stehe mitten auf der Wiese und schreibe in mein Notizbuch. Jetzt kommen Leute und ich ziehe mit dem Zelt meiner Existenz an einen ruhigeren Ort. - Niemals unter Bäume stellen, die Angst vor herabkleckernde Vogelkacke würde alles zerstören. Graukühl, entspannt verregnet stehe ich auf der Wiese im Park. Hat sich gerade ein Polizist hinter einem Gebüsch versteckt? Und wenn ja, hat er es auf mich abgesehen oder bin ich nur ein Komparse für den sich keiner interessiert? Ich weiß genau, was meine Aufgabe als Schriftsteller ist, doch blicke ich mich um, hustet mich fragend die Stadt an. - Ich bin schon wieder umgezogen, weil ein Mann mit Hund gekommen ist. - Ich drehe mich nochmal zu ihm um. Er sieht, wie ich mich umdrehe und schreibe, hoffentlich kommt er nicht zu mir und will lesen, was ich schreibe. - Ich gebe mir in Gedanken eine saftige Ohrfeige und kümmere mich um das, was ich schreiben wollte, bevor der Typ aufgekreuzt ist. Plötzlich tauchen weitere Hundebesitzer auf und ich verstecke mich blöderweise unter einem Baum, der sich nur ein paar Meter neben ihnen befindet. Es ist kein Versteck, ich fühle mich nur sicher hier, angelehnt an diesen starken, warmen Baum, wie in meinem Zimmer. Oh Gott, ich steh immer noch bei ihnen und schau sie auch noch an und schreibe diesen verfluchten Satz, als wäre ich am Rand meines Lebens angekommen. Glücklicherweise würde niemand auf den Gedanken kommen, dass ich vom Ordnungsamt bin oder ein Spitzel oder sowas, denn ich trage eine kaputte, rote Hose und eine kaputte, schwarze Lederjacke, meine Haare sind so fettig, dass ich sterben würde, wenn mich jemand fotografierte und den ein oder anderen Punker-Button sehe ich auch. Und was, wenn die Leute trotzdem oder gerade deshalb sehen wollen, was ich  gerade schreibe? Ich glaube nicht, dass ich jetzt ertragen könnte, dass die Leute verblüfft wären, dass ich gerade wie ein schwerfälliges Tier diesen Satz mit den drei nervigen "dass" und den zwei extrem nervigen "dass" schreibe. Ich glaube, die Gesichter, die sie machen würden, brächten mich endgültig aus der Bahn. Deshalb bin ich froh, dass sie jetzt auch mal weitergehen und ich ebenso - zum Glück reiße ich mich zusammen und laufe nicht in die selbe Richtung wie sie.

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Angegiftet von Koffein und Hoffnung versuche ich mit riesigen Spiegeln das Herbstsonnenlicht umzulenken in die graue, zu Boden gehetzte Menschenmasse und werde von gelangweilten Sicherheitskräften in eine Seitengasse getreten. Ich schaue meine Hände an und sag mir: "So viele Menschen, die ihr auf dem Gewissen haben könntet!" Kann ich alt sein ohne zu bereuen, niemanden getötet zu haben? Was nützt es, ohne Reue zu sterben? Ich sollte mich nie wieder ärgern über Leute, die noch kein Wort von mir gelesen haben. (Ich halte mich übrigens nicht für einen originellen Schriftsteller. Es gibt gar keine Originellen, höchstens welche, denen man nicht gleich ansieht, wen sie imitieren. Ich glaube, jeder kann sich originell scheinen lassen, wenn er heimlich zwei oder mehrere einander kontrastierende Stile, Persönlichkeiten, Haltungen, Gewohnheiten übereinanderlagert und plötzlich zur richtigen Zeit als sein Genie wie einen Revolver aus der Hose zieht.) - Manche Menschen müssen verwirrt werden. Die Leute brauchen außerordentliche Erlebnisse, damit das anständige Leben in den üblichen Mustern nicht mehr attraktiv genug ist. Das ist die Aufgabe der Künstler. "Du kannst doch so viel mehr aus deinem Leben machen als das", steckt in jedem guten Lied, es kommt nur darauf an, ob man es vor dem Aufstehen oder vor dem Zubettgehen hört.  "Von wem willst du dir was sagen lassen? Was kannst du noch ernst nehmen", sollte über jedem Plattenladen geschrieben sein. - Manche Menschen aber müssen einfach im Schlamm versickern. Man kann ihnen nicht mehr helfen, weil sie unempfindlich geworden sind, unknackbar: "Lass uns weiter auf die grüne Glühbirne starren und Substanz abbauen! Niemand hat irgendetwas mit uns vor! Wir sind hier an diese unfreundliche Welt gekettet, bis wir irgendwann ans unfreundliche Nichts gekettet sind." Eine Krähe steckt optimistisch ihren Kopf in einen Totenschädel, ich stoße eine brennende Mülltonne den Abhang runter, denn niemand interessiert sich mehr für irgendwas, nur noch für Extreme. Die Kanäle werden immer enger, die großen Gefühle immer kleiner. Statt echter Persönlichkeiten finde ich nur nervöse, trübe Nervenlichter hinter blassen Stirnen flackern, in dieser Stadt gab es lang kein echtes Gewitter mehr. Ich hasse mich für meine Unfähigkeit, darüber zu heulen und mit meinem Heulen andere Leute zum Heulen zu bringen. Ich muss diese Unfähigkeit knacken; wüsste nicht, welches Mittel mir dafür nicht recht wäre. Das Wort Möglichkeit verbinde ich mit einer roten Ziegelmauer, das Wort Lebensfreude mit einem Vorschlaghammer. Wer wirklich versteht, dass die Stadt ein riesiges Theater ist, hat weniger Hemmung, etwas lauter oder schäbiger oder schöner oder witziger oder aufrichtiger zu sein als der Rest.

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Mit all den Freunden, die ich dieses Jahr in Erfurt gefunden habe, könnte ich ein Leben lang glücklich sein, so glücklich wie ich es bin, wenn ich unter rauschenden Bäumen in den sonnigen Herbstmorgen knicke wie ein Butterblümchen die Besenkammer verbiegen will, in der ich darauf warte, dass meine neue Wohnung frei wird, in der ich an eine Zukunft glaube, da alle Menschen der Stadt sich unter rauschenden Bäumen beruhigen, durchatmen und neue Verbindungen zueinander knüpfen, während mich die Langeweile und Arroganz der Erfurter niederdrückt und mich John Coltrane und ein Kaffee zu viel immer größer und weicher und gieriger macht. Ich habe mich so weit aus dem Fenster gelehnt, dass ich nur noch das Haus verlassen kann, wenn ich mir vorstellen kann, die Stadt eines Tages ganz nach meinen Bedürfnissen umformen zu können. Solang ich mich als ein Opfer fühle, sind meine Augen trüb, meine Bewegungen grob und meine Gedanken kalt. Sobald ich aber ein Täter bin, ein fröhlicher, empfindlicher, genüsslicher Täter, wird die Musik überzeugender, werden die Gesichter meiner Freunde komplexer und alles Hässliche und Böse der Stadt so dramatisch wie ein frischer Rotweinfleck auf dem ranzigen Teppich der Besenkammer, in der ich noch einen Monat darauf warten muss, dass mein neues Zimmer in der WG von Piet und Steppel frei wird. Ich liebe meine Freunde, ich kann mir nicht vorstellen, sie nicht zu kennen, ich will gar nicht wissen wie ich geworden wäre, hätte ich sie nicht gefunden, es fällt mir leicht ihnen zu vertrauen, vielleicht weil ich sie so nötig habe - oder ich habe sie nötig, weil ich ihnen vertrauen kann? Mit einem roten und einem schwarzen Schmetterling hinter meiner Stirn küsse ich meine Freunde auf die Wange und schubse sie auf die Straße, wir werden beinah von einem Lastwagen angerempelt, der Fahrer steigt wutschnaubend aus, zieht uns die Ohren lang und tritt uns in den Park zurück, wo wir zitternd vor Lachen unter rauschenden Bäumen uns vorstellen, Erfurt mit Ambientmusik und Meskalin aus unserem Kopf zu kriegen, um Platz für die ganze Welt mit all ihren Problemen und Gefahren zu schaffen.

5
Zieh deine Schuhe an, öffne all deine Kanäle und geh nach draußen. Siehst du den blauen, kühlen Herbst weiße, weiche Federn lassen? Siehst du wie die Stadt ein- und ausatmet? Sich langsam aufplustert und die Straßen breiter und die Menschen schiefer und die Gedanken verschwommener macht? Wenn du nicht mitkommen willst, fahr ich mit dem Fahrrad. Wann legst du dir mal eins zu? Die Stadt ist nur erträglich, wenn man ihre Permanenz mit einem Fahrrad wegtreten kann, oder wenn man immer wieder bereit ist, sich von Partys enttäuschen zu lassen.

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Das explosive Kribbeln unter der Schädeldecke steuert die Bewegungen des Kopfes und seiner Gedanken. Halten die Gefäße das aus? Ein Aneurysma schwebt wie ein Geier über der Stadt, während ich auf meinem Bett erleuchtet bin von einer Euphorie, die all meinen Schmerz und all meine Langeweile zu einer unendlichen Kalaschnikow verdichten würde, käme ich auf die Idee, noch einen Zug zu nehmen und ich erinnere mich an heute Nachmittag: eine aufgepeitschte Trümmermami fährt mir mit dem Kinderwagen über den Fuß und schreit mir vorwurfsvoll um die Ohren, dass ich ein Taugenichts bin und an einem Kaffee nippend frage ich mich, warum sie wohl etwas gegen Taugenichts haben könnte. Obwohl sie die Allerletzten sind, denen man vorwerfen kann, aktiv an diesem fürchterlichen, unvernünftigen Weltgeschehen beteiligt zu sein, wecken alle Faulpelze und Irrlichtgestalten eine gewisse Angst und Abscheu in den Menschen: "Was wird wohl aus den Nichtsnutzen, wenn ihnen langweilig wird? Dann werden sie böse! Ich hab es an mir gesehen! Wenn ich nichts tue, fühle ich mich schlecht und werde böse. Sowas darf es nicht geben, jeder muss arbeiten, jeder muss irgendwo drinstecken, um nicht auf die schiefe Bahn zu gelangen! Wie schön wäre es, wenn alles unter meinem Kommando stünde!" Meine Gedanken entgleiten mir und ich habe keine Lust sie zu verfolgen, setze mir stattdessen Kopfhörer auf und verschwinde für ein paar Stunden unter der Trauerweide im Kleinen Venedig.

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Friday night is going to kill you again. - Die Nachrichten lassen ihre unscheinbaren Imperative über mich kreisen, wenn die Reporterin blutunterlaufene, flehende Augen macht, die mich direkt ansprechen. Ich will nicht mehr hilflos zuschauen, wie das schwache Söhnchen dem Streit seiner Eltern zuschauen muss, zur Passivität verurteilt in einem noch unfertigen Körper, ausgeliefert dem Toben der Größeren, enttäuscht vom Missverständnis der Stärkeren, mag ich die harmlosen Witzchen, die der Nachrichtensprecher mit der Wetterfrau macht. Wie gehe ich nun mit den Aufforderungen um, die ich mit meinem Gehirn aus dem Subtextsumpf des Weltgeschehens gefischt habe? Erstmal trocknen lassen, ja. Die öffentlich-rechtlichen Medien wollen die Rolle, die ich spielen muss, mehr beeinflussen als die Demütigungen, die meinen Erziehungsberechtigten - zu Recht - widerfahren sind, und lieber zahle ich Rundfunkgebühren als Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Der Wahrheit verpflichtet, lass ich mich in mein weiches Bett fallen und überlasse mich der nach Rosen und Schokolade duftenden Ratlosigkeit.

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Ich mag es, wenn immer mehr drin steckt, als erwartet.
Und je empfindlicher du bist, umso mehr erwartest du.
Wenn die blöden Leute nicht zu toller Kunst kommen wollen, dann muss die tolle Kunst eben zu den blöden Leuten kommen, bis die Polizei den Stecker zieht.
Zunächst erstmal: Spannungen aushalten. Herunterfahren. Gemütliche Wüste. Weicher Knick. Drogen. Extreme Gegenwart ersetzt das Ichgefühl.
*
Wäre es für einen Versager wie mich nicht toll, würde er sich mit allen anderen Versagern des Landes zusammentun können? Ein Lebens in einer vernetzten, solidarischen Welt, wo jeder jeden kennenlernen kann (strukturierte, filterbare Datenbanken, in denen alle Menschen sich mit ihren Eigenschaften eintragen können, um Menschen mit bestimmten Eigenschaften zu finden,
(Auch schwer vermittelbare Heuschrecken und Leguane und Vogelspinnen finden ein gemütliches Zuhause. In Mexiko gibt es Ameisenstaaten, die verspeisen innerhalb weniger Stunden einen Menschen. Eine bei der Drogenmafia beliebte Hinrichtungsmethode ist es, einen lebenden Menschen in ein Grab zu werfen und einen hungrigen Ameisenstaat hinterher. Soweit darf es natürlich niemals kommen!)
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Die Menschen fühlen ihre Subjektivität in Frage gestellt allein durch die Anwesenheit eines andersdenkenden, andersfühlenden Menschen. Der Mensch muss lernen, sich zu entspannen. Es gibt nämlich gar keinen Grund zur Besorgnis: wir können alle nebeneinander existieren. Wir müssen nicht alle im selben Haus wohnen. Es ist nicht wichtig, sich gegenseitig zu überzeugen. Es gibt kein Hauptprojekt, kein anderes Ziel, als den kreativen Strom lebendig zu halten.
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Eines Tages wird ein einziger Ton ganz Europa vereinen. Kollektive, rauschhafte Besinnung.

9
Um mir zu ersparen, wie meine Freunde beim Aktzeichen-Kurs an der FH ihre Pinsel schwingen lassen, hatte ich beschlossen, mich von ziellosen Straßen ein bisschen gehen zu lassen und baute mir später versehentlich ein unsichtbares Zelt in der Mitte einer bunten Vernissage über Schamhaare und Orgasmus-Farben und dreckige, gierige Lachen dröhnten, meine Zunge wurde immer saurer und ich verlor das Gleichgewicht und schlitterte windschief ins "Gemütliche Eckchen" und ein paar Gesichter hier kannte ich, im Kreis flüchtige Bekannte, die auf gemütlichen, aufblasbaren Badespaß-Tieren saßen und mich fröhlich zu sich aufs Karussell hochwinkten, hochwunken, Euer Hochwunken! Es ist mir eine Ehre.
Die Schüchternheit, die meinen Körper von inne her leuchtend macht, kann die anderen Teilnehmer doch nicht gleichgültig lassen! "Mein ganzes Weltbild passt unter einen Bierdeckel: gute Laune ist keine Glückssache.", seufze ich von den Anderen ungehört in mein Wasserglas. Sobald ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, mach ich mich darauf gefasst, dass man mir jeden Moment euphorisch um den Hals fallt, um mir für eine große Sache zu danken, die mir ganz leicht, fast beiläufig gefallen ist. Ich mache große Augen und vielleicht knallt es gleich...


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Die scharfe Sichel des Mondes trüb blutorange am schwarzen Horizont aus Industriegelände und Nacht betrunken niedergleitend, während die Autos alle Verkehrsregeln genau beachten, denn nur wenn Verkehrsregeln befolgt werden, kommt man sicher zum Ziel: ein glückliches Leben und ich setz mich an den Tresen meiner Lieblingskneipe, bestelle einen Kirschsaft und denke an einen armen, alten Hund, der seine Enttäuschung über das immergleichen Billigfutter nicht ausdrücken kann. Ich erinnere mich an den Anfang meiner Zeit, als ich das Leben so wenig wollte wie es mich nötig hatte, an die Kindergartenzeit: heute soll es noch gewittern. Es kann sein, dass ich etwas Neues probiere. Du hast schon wieder gekleckert! Es ist so schönes Wetter! Wenn man ein Kleeblatt mit vier Blättern findet, dann bringt das Glück. Eine Hexe ist auch nur ein Mensch. Jemand macht die Tür vor dir zu. Du sollst das nicht in den Mund nehmen! Wenn du noch zu deinem Freund willst, dann räum vorher dein Zimmer auf! Ich hab Hunger, aber trau mich nicht zu fragen. Irgendwas geht hier vor. Das gehört sich aber nicht! Der Wahnsinn wird vorsichtig vorsichtig geschluckt und schreiend und tanzend verdaut. Der vorige Satz und der folgende sind aneinandergeleimt mit hellgrünem, salzigem Nasenschleim. Am Rand der Anderen wie als zweiter Mond die Erde umkreisend, ist nichts mehr verboten. Der Regen plätschert auf den Tresen, die Sonne strahlt hell, wir sehen das Gras wachsen, jeder sitzt auf seinem Stuhl, ich werde plötzlich kleiner und fließe nach unten wie Grießbrei. Der Hausmeister zerschmettert einen Fernseher mit einem Vorschlaghammer, meine Füße stinken wie die Füße meines Vaters stinken und ich ahne, was es bedeutet, authentisch zu sein und ich stolpere über einen Haufen Plüschtiere, meine alte Englischlehrerin riecht nach Patschuli, es ist Mittag und der Himmel ist fast so schwarz wie Kaffee, meine Mitschüler schieben mir schadenfroh kichernd ein Ei hin, das schauerlich quiekt und ich verkrümel mich in eine Ecke, keiner sieht mich mehr, ich liebe mich von ganzem Herzen und bin wieder am Tresen, die Sonne ist weg, der Regen regnet weiter und ich schütte Benzin auf den Tresen und zünde ihn an.

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Heute ist Trump Präsident geworden, Europa bekommt einen Krampf, Selbstbewusstsein ist unvermeidbar geworden, jetzt haben wir keine Entschuldigung mehr! Festgekrallt an deinen ruhelos schlafenden Körper fand ich Clintons Niederlage mit meiner Unfähigkeit dich zu küssen verwandt. Die Welt leidet an meinem Liebeskummer, die Welt weitet sich unter meinem feuchten, fröhlichen Liebeskummer, den ich stolz trage wie eine Elster Silberschmuck, da er meine Hausratsversicherung rechtfertigt. Ich spüre wie du auf meinen Schultern sitzt, die Leute fragen sich, ob wir noch lange hier bleiben, lassen es sich aber nicht anmerken. Ich finde es toll, dass wir den Leuten den Platz wegnehmen, dass wir unsere Liebe und Angst und Verwirrung mit Bausch und Bogen und leuchtendem Lametta durch die Straßen schmettern, unsere Mägen subtropisch-würdig gebläht, der überempfindlich machende Glanz der uns trägt, die ziellose Begeisterung, der wir uns bedingungslos unterwerfen. Soviele Gedanken machen keinen Sinn, dürfen keinen Sinn machen! Das Ich ist die Struktur der Sinnlosigkeit. Ich wickel meine Ansichten wie weiche, verschnupfte Rosensträuße um die unendlichen Finger meiner Lebendigkeit. Ich möchte beklatscht werden von allen, die kein Wort verstehen, ich will aus den Angeln gehoben werden von Drohgebärden unsichtbarer Zwangsvollstreckungsbeamten, die müde Akten und Menschen und Zeit wälzen. Das Ich ist die Kapitulationsflagge der Wahrnehmung. Ich zittere, ich schwitze, ich habe Hoffnung für jeden Menschen.

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Lasst mich hängen bleiben an der Trauerweide, lasst mich glühen und seitlich in den Abend kippen. Die Welt ist in Aufruhr und ich spüre meinen Körper meine Karriere verneinen. Die Zeit vergeht ganz langsam, wenn ich mich nicht auf meinen inneren Monolog konzentriere, der für mich gegen meinen Willen die allmorgendliche Suche nach einem Kaffee in der Innenstadt moderiert. Lasst mich hängen bleiben, schrieb ich vorhin an der Bushaltestelle, jetzt ist der Kaffee getrunken und ich öffne mein Notizbuch und beginne mit der Arbeit..

und bitte tu nicht bloß so
als würd ich zu dir gehören
ich werd dir jeden tag kartoffeln kochen
und alles könnte noch
viel viel viel gemütlicher werden

oh bitte lass dir niemals
unter keinen umständen
von irgendwem die welt erklären
such und finde in keinem lehrer
unter keinen umständen
einen elternersatz

denn alles
was du wissen musst
kannst du dir selbst beibringen

oh bitte lass dich niemals
unter keinen umständen
von dichtern und denkern ablenken
such und finde in keinem werk
unter keinen umständen
ein neues zuhause

denn das einzige haus
in dem du wohnen musst
ist die ruine deiner kindheit

Ich weiß, dass das Lied noch nicht fertig ist, ich verliere aber die Konzentration, die Gedanken scheppern wie Besteckkästen die Treppen dieser Zeilen hinab, dieses Buch ist ein meinem Körper zugehöriges Organ, wie meine Zunge, wie meine Leber, wie meine Brille, wie mein Facebook-Avatar. Dieses Buch ist ein Kommentar zu meinem Personalausweis, eine unsichtbare Frage, die ich der klebrigen Frage entgegne, was ich ohne meine Freunde und ohne mein Schreiben wäre. Was will ich? Ich will meinen Freunden ein guter Freund sein, und ich möchte viele Freunde, viele verschiedene: dieser Vorsatz ist Ermutigung genug, das Bett zu verlassen und mehr brauch ich nicht, um durch den Winter zu kommen. Ein guter, dichter, wilder Freundeskreis ist meine Utopie. Wenn ich wirklich etwas zu geben habe, dann meine Liebe und Empfindlichkeit. Ich möchte, dass jeder in meinen Kreis findet, der meinen Kreis nötig hat, ich will, dass jeder uns findet, der uns braucht. Ich stelle mir einen im öffentlichen Leben zur Schau gestellten Freundeskreis vor, offen für die Geschichten, die sich in der Stadt abspielen, wild darauf zu interagieren. Ich stelle mir eine Gruppe von Taugenichtse und Suppenkasper vor, die nach gutdünken im Stadtleben eintauchen, es mit Präsenz würzen, "die schon für irgendwen gut ist", lächeln sie den unfreundlichen Menschen wie wehende Fahnen entgegen und niemand glaubt ihnen, alle wollen Beweise sehen und jedes Manifest ist ein Versprechen und jeder Sinnestaumel eine Offenbarung, jede depersonalisierende Freude ein Fanfarenstoß, jedes Gedankenspektakel ein leuchtender Blumentopf, der vom Fenster gestoßen werden will. Nichts ist heilig, kein Talent ist nötig, ein bisschen Scham vielleicht und ein bisschen Rachsucht, warum nicht auch ein bisschen Faulheit und Frivolität? Sobald man etwas ernst nimmt, sitzt man in der Zwickmühle. Nur echte Heiterkeit zählt, die fröhliche Distanz, die herzliche Weigerung, mitzuspielen, die kunterbunte, mit falschen Diamanten und echten Erdbeeren geschmückte Verzweiflung, nur die feierliche, unverschämte Niedertracht des Ratlosen kommt in Frage, wenn du in der Zwickmühle steckst. Ich stelle mir einen Freundeskreis wie eine Performance vor, ein gemütliches Kissen für alle, die ein gemütliches Kissen brauchen und verdient haben. Nicht jeder hat eins verdient: viele Leute müssen um ihre Ruhe und Gemütlichkeit gebracht werden, viele Leute müssen in den Wahnsinn getrieben werden: bloß kein Mitleid mit denen, die sich gern knechten lassen und die Sündenböcke brauchen: sie haben den Hass ihrer Väter und Mütter und Freunde und Feinde übernommen, er ist ihnen einprogrammiert worden und man bekommt ihn nur mit katastrophalen Ereignissen heraus. Je länger ich wach bin, desto weniger kann ich mich entscheiden, ob die Stadt einen kuscheligen Pullover oder eine Ohrfeige braucht. Ich verliere die Lust ein Schriftsteller zu sein, sowenig wie ich mir etwas vormachen kann, kann ich anderen etwas vormachen. Lieber räum ich die Küche auf, als Gedichte zu schreiben, lieber schau ich die Nachrichten, als Karl Marx zu lesen, lieber hör ich einem Gespräch zu, als mich selbst zu inszenieren. Am ehrlichsten fühle ich mich, wenn ich mich dafür hasse, nichts als Geschwafel von mir zu geben. Jeder Text zeigt mit zwei dicken, neonleuchtenden Daumen auf den Autor: seht nur dieses Gesicht, diesen Mund, seht nur: da ist ein Mensch, der sich mitzuteilen hat, er muss wichtig sein, denn er hält sich für wichtig. Als würde sich nicht jeder für wichtig halten! Was für eine unspektakuläre Laschheit hinter der Fassade, die sich aus geklauten Worten und geklauten Schablonen eine Hoffnung und Würde destilliert, die erschreckend unangebracht ist: ich will nichts beschönigen und nichts in den Dreck ziehen: ich will einfach mit einem blauen Auge davon kommen.

ich stolpere und lache über meine unfähigkeit zu entscheiden was witzig ist oder was seltsam ist oder was mich beunruhigen soll. ich vermisse das gefühl, beunruhigt zu sein. ich geh durch meine nachmittaglichen gedanken wie durch lange korridore und silber-goldnes lametta hängt überall herum, jemand wird sich was dabei gedacht haben, ich schaue allen leuten in die augen, ich verstehe alles was sie sagen und freue mich, dass mir so viel anvertraut wird. ich bin eine öffentliche person geworden, seit ich lieder über meine stadt schreibe.


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Abschaffende Fröhlichkeit. - Ich versuche dem Himmel ein Lächeln ins Gesicht zu starren mit der Frage, was daran verwerflich sein soll, sein Glück mit Cannabis zu versuchen, während meine Klassenkammeraden es guten Gewissens mit ihren Jobs und ihren Hobbies versuchen, ohne besonders zuversichtlich auszusehen, während ich zweifellos zuversichtlich aussehe, weil ich zweifellos zuversichtlich bin, dass es so weitergeht wie bisher, also dass ich jeden Monat ein besserer Songwriter und Schriftsteller werde, dessen Projekt die manische Weigerung ist den eigenen Charakter weiterzuführen, sprich die üblichen Verhaltens- und Dnekmuster an den Tag  in meinem Fall in die Nacht legt: bevor nämlich das Gras mich entkoppelt hat in die unendliche Musik des Marihuana-Highs, das animalische Versacken in den neuronalen Zustand vor der Personalwerdung, die erst möglich wird, wenn man den Vorurteilen glaubt, die andere Leute von einem haben. Weist man alles zurück, was die Mitmenschen zu bieten haben und putzt ihre Imperative und Drohungen und Erwartungen und Ängste wie jahrealtem Staub von sich ab, zersplittert das Ich und die Geschichte in lauter Module, die sich ganz neu konfigurieren lassen: jetzt gibt es erstmal niemanden mehr, der das tun könnte, niemand lenkt mich mehr, ich bin frei von der Logik, die mein bisheriges personales Leben zu einem leeren Gepäckband verkommen ließ, die alten Muster sind abgeschafft, dies ist die Geburt meines Pseudonyms, in der gleichen Woche trete ich zum ersten Mal mit meinem Solo-Piano-Album auf, Demien Bartók kriecht in die Große Maschine: zur Möbelhauseröffnung spielt Demien Bartóks Kompostdisko schon wieder am Freitag in der Salinenstraße und am Samstag im WirGarten, einem sich gerade sehr erfolgreich etablierenden Gegenkultur-Festival, hier lege ich gute Musik auf und singe meine Kabarett-Songs und trau mich nur maskiert in die Öffentlichkeit und bin Cannabis-süchtig und popel grinsend dem grauen Himmel ein Lächeln auf, zumindest in meiner Sprache lächelt er auf, in meinem schiefen Lallen im grünen Laternen-Mondlicht auf weichen Kissen vor- und zurückwippend, eine seiden-flimmernde Entspannung massiert die Rückseite meines Gesichts und meiner Stirn, wie ein mit Lederriemen auf einem Bett gefesselter, in Zukunftsangst und Schlaflosigkeit manisch gewordener Junge sehne ich mich nach einem Neuen Europa, glaube ich an ein Neues Europa, bin mir nicht zu schade für dieses Pathos, denn es funktioniert auch als Witz, falls ich der einzige wäre, der daran wirklich glaubt. Ja, das war vielleicht alles nur ein Witz, ein bewusst schlampig erzählter Witz voller Sackgassen und peinlicher Sinnlosigkeit; und dass ich trotzdem daran glaube ist die höchste Verneinung des Nihilismus, in dem ich mich verrannt hatte, bevor ich durchgebrannt bin: "Das Leben lohnt sich, ein schiefes Leben ist möglich, ein Leben dass man nicht ernst nimmt, erweitert sich, mehr weiß ich nicht, mehr will ich nicht wissen. Bevor ich das nächste Mal Meskalin nehme, muss ich noch endgültig den Kontakt zu meinen dummen Eltern kappen und aus meiner versifften WG ziehen, ich werde die Wohnung derartig manipulieren, dass man sie nicht mehr bewohnen kann, ich werde diesen ekelhaften Punks die Waschmaschine und den Kühlschrank kaputt machen, das Internet mitnehmen und das Klo verstopfen: ich wünsche ihnen einen traurigen Herbst und einen kalten Winter und ein einsames Frühjahr. Im Herbst wird Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten, im Winter werden die ersten Flüchtlinge verbrannt, im Frühjahr explodiert in Frankreich ein Atomkraftwerk und weitere Katastrophen werden folgen, die Reichen verschanzen sich, die Armen fressen sich gegenseitig auf und viel zu spät geht den Künstlern ein Licht auf, viel zu spät ergreifen sie Partei, viel zu spät nehmen sie es mit denen auf, die uns unsere Empathie und unsere Kreativität genommen haben, die uns abgestumpft haben so wie kalte, ungebildete, egoistische Eltern ihre Kinder sich immer ähnlicher machen. Ich geh genau die andere Richtung und mit diesem Buch und meinem ersten Musikalbum ist meine Ausgangsposition markiert und ein Huhn läuft wieder über die Straße und alle Menschen halten an, die Gesichter der Leute sind freundlich, alle freuen sich, dass das Huhn heil über die Straße kommt und Popmusik muss einfach sein und warum quälst du dich so mit deiner Arbeit rum, was bleibt dir noch übrig außer abzustumpfen? Ich sah die besten Köpfe meiner Generation vom Bewerbungsschreiben zerstört und am ehrlichsten ist man, wenn man einfach nur in die Dämmerung starrt und nicht weiß, wie man damit umgehen soll, dass man nicht weiß, wozu man sich bekennen kann, doch wozu derart aufrichtig sein, wer hätte etwas davon? Die Asylheime brennen, Menschen ertrinken auf der Flucht im Mittelmeer, Lämmer werden geschlachtet, Menschen werden geschlachtet, wenn mich einer braucht, ich bin im Garten und grabe ein Loch und taufe es auf den Namen Europa und warte auf einen Herbststurm, ein brachiales Unwetter, an dem sich alle Geister scheiden sollen, meine Sehnsucht glüht violett und biegt meinen Oberkörper, derart dass Erfurt aus mir verschwindet, ich hab die Stadt hinter mich, unter mich gebracht, von namenloser Vorfreude dissoziiert schlittere ich in ein neues Europa, in ein neues Zeitalter. Ich habe Erfurt abgeschafft! Ich habe Europa behauptet! Ich bin nicht mehr depressiv! Ich bin mich losgeworden! Ich habe den Glauben an die Zukunft wiedergefunden.....

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Ich brauche Liebe, Kaffee und ein verstimmtes Klavier! Ich habe Songs zu gebären, ich will sie mit meinen Freunden großziehen und sich frei entwickeln lassen! Unsere Liebe ist der Glaube, dass diese Welt immer neue, tapfere Lieder braucht.
Auf der Suche nach Substanz stürze ich über meine Füße und falle in unendliche Leere, bis mich ein Beat rettet und sicher nach Hause bringt, ein Beat der keine Spende erbittet, ein Beat der freimütig gibt und nichts zurückhält, eine elektrisch verstärkte Perversion, ein grimmiger Blick als Antwort auf grimmige Gesichter, der Mittelfinger einer grundlosen Euphorie, selbstverlogen und hypersensibel steigern wir uns in die Ungewissheit hinein wie sich die beiden Lokführer, die auf der selben Schiene aufeinander zugerast kommen, in den Aufprall hineinsteigern müssen.
Die Tatsachen prallen gegen die Zukunft und beides verbiegt sich, das Treppenhaus ist voll bunter Blumen, weichgesogen von Tau und Tränen. Die Bewohner hier sehen wie auf pflanzliche Nahrung umgestiegene Vampire aus. Ich seufze und bin froh: es gibt mich noch nicht, es gibt mich noch nicht. Solang es mich nicht gibt, könnt ihr nichts von mir erwarten! Ich wollte euer Werkzeug nicht benutzen und deshalb ist auch kein Werkzeug aus mir geworden und ich hänge omnipotent und rund und glücklich, fast glücklich, in einer grauen Straße einer langweiligen Stadt herum und warte auf Zufälle, die mir eine Substanz, eine Identität geben könnten.
So vieles ist unannehmbar, so vieles ist untragbar! Hört auf Euch zu viel zuzutrauen! Lasst die Kompromisse, lasst die Zweckbündnisse! Ihr seid nicht glücklich genug, um Krieg zu führen! Ihr seid zu einsam und hoffnungslos, um alles auf eine oder zwei Karten zu setzen! Macht Euch nichts vor! Und wenn, dann übertreibt es derart, dass Eure Lebensgeister durchdrehen und Eure Augen immer größer werden! - Das Bewusstsein kocht wie durchsichtiger Honig hinter unserer Stirn, die grelle Turbine der Nacht wiegt uns in Hoffnung. Die einzige Substanz, über die unsere Ekstase verfügt, ist unser Körper. Indem wir übersteuern, verwirklichen wir uns als vollständiger Körper.
Die Vergangenheit ist nur noch Erinnerung, die Zukunft reine Spekulation, die Gegenwart dazwischen ist der fiktive Handlungsraum unseres fiktiven Ichs: indem wir die Gegenwart als nicht-existent begreifen, befreien wir uns von der Illusion eines stabilen Selbst. Im Wissen um bestimmte Ereignisse der Vergangenheit und auf eine bestimmte Zukunft hoffend fingieren wir ein Jetzt, mit dem wir uns direkt in Beziehung setzen. Wenn man aufhört, gegenwärtig zu sein, indem man sich bewusst macht, dass man sich immer nur erinnert und nicht wissen kann, was passieren wird, hört man auf, verantwortlich für seine Gedanken zu sein und plötzlich fühlt es sich völlig belanglos an, am Leben zu sein, so als sei das eigene Bewusstsein nur ein dummer Scherz der Materie mit sich selbst. Was hat mein Bewusstsein für einen Nutzen, wenn ich keinen Nutzen in der Welt habe? Warum sollte ich am Leben bleiben? Nur um ein paar Eksatsen zu wiederholen? Mein Serotonin-System ist, was mich nicht sterben lassen will: der Sinn des Lebens ist eine Frage nach dem richtigen Serotonin-Spiegel. Wir wollen am Leben bleiben, weil unser Gehirn am Leben bleiben will. Langeweile und Agressionen und Depressionen sind Folge eines schlechten Serotonin-Spiegels. Tut was immer dir auch hilft, deinen Serotonin-Spiegel oben zu halten! Ich spiele im Dezember auf einer Vernissage in der Kunstuni, vielleicht stelle ich dort dieses Buch vor, das weder einen Anfang noch ein Ende haben kann. Das Durcheinander wird großartig sein! Erfurt ist ein Ideal, dem man sich nicht beugen darf! Erfurt ist eine Depression, der man sich entgegenstellen muss! Geknickte und Gebeutelte, Kreidebleiche und Desserteure, Zurückgewiesene und Schlaflose! Versammelt Euch um die karge Flamme meiner Verwirrung, legt Eure Scham und Selbstzweifel ab, werft Eure Masken und Vorwände in den Himmel und stimmt ein in den Chor der Verdammten! Europa ist eine Behauptung und wir behaupten sie! Die Welt muss gerettet werden! Europa muss sich fangen und neue Hoffnung, neue Liebe ausstrahlen. Europa ist ein Monolith und wir geben bunte, überschwängliche, monatelange Feste, um von seiner Herrlichkeit zu zeugen. Europa ist eine Manie und wir drehen uns in ihr unserem Mittelpunkt entgegen: der Quelle unserer Kreativität und Selbstherrlichkeit.

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Im Garten meiner Aufmerksamkeit, wo Bier und Mensch mir schmecken soll, fließt Kleinstadt-Neonwerbung mit grässlich ironischem Grinsen gelb und fettig meine Stirn runzlig, bis ich mich nach deinen schwarzen Augen sehne, deinem ebenhölzernen Wahn und deinem echten Arsch. Ich fass meinen Bauchnabel an und die Nacht öffnet sich. Elektrisch verstärkte Emotionen untermalen gemütliche Ecken Dunkelheit, weiches Leder, dunkelrot flüsternde Stehlampen und den Geruch deiner regennassen Haare. Ich fass deinen Bauchnabel an und die Nacht kippt um.

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Später sitze ich dann im Schneidersitz am Obelisken am Domplatz und atme die dreckige Luft von Erfurt ein und aus und ärgere mich, dass ich vergessen habe Kaffee zu kaufen und ein Café-Hilgenfeld-Atze spricht mich von der Seite an: "Hey Boy, sag mal, kannst du mir aushelfen? Erfurt ist grad echt trocken und du riechst ein bisschen wie jemand mit einem roten Daumen." und ich freu mich über Besuch und frage ihn: "Magst du was?" und drehe einen dicken Joint, während ich mich in die Kamera drehe und einen kleinen Vortrag halte, am linken unteren Bildschirmrand sieht man das Gesicht des immer ungeduldiger werdenden Typen. "Am besten du setzt dich erstmal im Schneidersitz an den Obelisken am Domplatz und atmest die dreckige Luft der Stadt ein und wieder aus und trinkst einen Kaffee und fragst dich, was du mit deinem Leben anfangen wirst, wo es jetzt schon einmal da ist." Ich zünde den Joint an und rauche ihn auf, ohne dem Jungen etwas anzubieten. "Besuche gute Konzerte, komm mit den Leuten ins Gespräch und frag nach Feuer und tu dann so als würdest du dich ärgern, dass du nichts mehr zu Rauchen hast und hoffe, dass dir jemand Tabak anbietet und lehne mit dem Verweis ab, dass du nur pur rauchst und dich nun auf die Suche nach dem grünen Gold machen musst und hoffe, dass sie dir vielleicht etwas anbieten oder wissen wer einen roten Daumen hat. Sie werden fragen, warum roter Daumen, die Redaktion hat ermittelt, das ist ein nur in Erfurt gebräuchlicher Ausdruck für einen Cannabinoiden: Marihuana-Konsumenten sieht man eben nicht an, dass sie welche sind und wer wie ein Kiffer aussieht, hat meist einfach eine Manie oder Depression zu bewältigen und man soll ihm da nicht im Weg stehen! Wenn du weißt, wie Gras riecht, dann folge deinem Näschen dahin und bring dort wieder die Nummer mit dem Feuer. Oder du findest einen coolen Plattenhändler oder Second-Hand-Krämer, oder stolperst am Ende der Nacht über einen süßen Graffiti-Sprayer. Am besten hast du den Leuten etwas Interessantes zu geben, schüchterne Wirrköpfe oder schwachsinnige Hinterwelter haben es schwer, in den gewissen Kreisen aufgenommen zu werden. Such dir schnellstmöglich ein interesstes Hobby und übertreibe alles derart, bis du dich aus deiner bisherigen Bestimmung wie aus einem brennenden Personenflugzeug herausgeschleudert in die manische Phase des Wolkenguckuck-Heims, wo es weder Gartenzwerge noch Schuldzuweisungen gibt, keine Vorfahrtsregeln und keine Prioritäten, alles ist gleich interessant, alles wird gründlich verarbeitet, das Gehirn läuft so aktiv wie noch nie, es ist sehr anstrengend, aber die Anstrengung lohnt sich sehr, die Umstrukturierung der Neurotransmitter führt zu neuen Einsichten und Ich-Konzepten, und nicht jeder hat die Kreativität und Intelligenz, cannabinoide Panikattacken und Depersonalisation auszuhalten, ohne verrückt zu werden. Richard Dawkins hat vorhin gesagt: "Verrückt ist man nur, wenn man seine Möglichkeiten nicht verkraftet." Ich hab es ihm in den Mund gelegt.  Es tropft noch. Nachdem ich eben alle lustigen Stellen aus dem Text gestrichen habe, kann ich jetzt mit dem Gefühl schlafen gehen, mein Image endgültig verändert zu haben." Ich zwinkere in die Kamera und geb dem Jungen die Hand: "Danke dass du dabei warst, ich hab eben meinen letzten geraucht."