Der Morgen kommt in Schüben

1
Mein hellgrün-blaugrau-schimmernder Faulpelz
blüht in den donnernden Innenstadtverkehr,
meine Augen sind Teleskope, die ich aufspanne in der Straßenbahn
wie bunte Regenschirme zum blanken Entsetzen der Leute
Ich fordere jeden Morgen,
Herr über meine Eigenschaften zu werden,
aber niemand hört mich, also stolpere ich
in die üblichen Verhaltensmuster
ich bin feucht-fröhlich auf der Suche
nach dem vorletzten Prosecco
Niemand hat Ohren für meine unsichtbaren Pläne,
niemand Augen für meine ungreifbaren Trübnisse.
Ich knüpfe mir einen Galgen
und werfe ihn um den grauen Kummer der Welt
und kaufe mir einen veganen Kakao.
Auf weichen Teppichen durch die Stadt
aus Beton und Glas und Regenwasser
und Stein und kahlen, schwarzen Bäumen.
die plumpen Lichter am Kaufhaus geben dem
Haupteingangsbereich einen Schlachthof-Charme,
man kann sich satt und hysterisch dran sehen.
2
Ich weiß genau, wie ich mir gute Gefühle und Gedanken mache.
Ich verrate Euch nicht alles. Ich weiß auch nicht alles.
Jeden Morgen schaffe ich im Vollbesitz
meiner Zerfahrenheit diese leblose Stadt ab,
mein Sonntagsgesicht terrorisiert die
Fußgängerzone zwischen Bahnhof und Domplatz.
Ich kann meinen Sturz nicht abfedern mit Gras,
ich kann meinen Sturz nur hinauszögern.
Ich schüttel mich und schüttel mich.
Ich stehe am Anger und blinke rotgelbgrün
auf der Suche nach dem Gedankenanfang,
Hast du Lust auf frische Brötchen und Kaffee,
der dich drei Tage wach macht,
wenn du vorher einen Liter Grapefruitsaft getrunken hast?
Meine bunte Garage kommt langsam runter,
der Teppich ist weich und bietet Platz für zwölf
geschmackvolle Verlierer auf der Suche nach Licht,
der grüne Smaragd hinter meiner Stirn hält mich in Balance,
wenn ich einbeinig an der Kreuzung stehe und
darauf warte, dass das Ampelmännchen grün wird.
Alle können sehen und hören was ich bin.
Ich bin das Zentrum der Aufmerksamkeit.
Die Musik kippt gleich um, es riecht nach Blumen.
Meine Nichtigkeit macht mir schöne Augen,
vergeudete Dahlien, enttäuschte Sonnenblumen,
gelangweilte Nelken der Vorahnung.
Der Gedanke, dass ich nur ein Vorurteil bin,
lässt die Stadt ebenso ein Vorurteil sein.
Weg mit mir und weg mit der Stadt!
Wer sich mit etwas identifiziert, verliert.
Wir, die wir zu wenig Talent und zu viel Lust haben,
verschanzen uns auf dem Zauberberg, in einen Roman,
einer Landschaft, einer Musikgruppe, einer anarchistischen Partei.
Schmierige, schiefe Sätze gegen die tödliche Wahrheit.
Meine Angst vor Wespen lässt Autoreifen platzen.
Ich sammel schlechte Geister.
Viele Leute sehen so aus, als hätten sie Lust,
mich an einer Fließbandarbeit leiden zu sehen.
Manchmal grüße ich sie mit einem Pudding-Grinsen
Ich werde einfach solange kurbeln,
bis es nicht mehr geht;
bewaffnet mit unlesbaren, zarten Freunden
und tiefen Büchern.
3
Wir aufgebrachten Geister, wir Namenlosen,
wir Ausgestoßenen und Nichtsnutze,
wir Selbstmörder und Abgestochenen,
wir Geldgierigen und Gottlosen,
wir der Erlösung Bedürftigen,
wir brauchen eine Utopie, um nicht über uns selbst herzufallen.
Wir sitzen auf dem Klo und stellen uns vor,
wie wir blutigen Gulasch in die Gehirne unserer Eltern und Lehrer
und Vorgesetzten scheißen und die Sonne geht unter,
ich liege auf einer weichen Hängematte über dem Geraufer,
der Stellvertretende Ortsteilbürgermeister
paddelt unter mir durch und wir grüßen uns freundlich.
Ein lauer Sommerabend, der viel verspricht,
aber nicht viel hält: gut so,
Erfurt hat es nicht verdient, dass hier etwas passiert.
Wir befinden uns im Dampfmaschinenzeitalter,
wir müssen unsere Kinder darauf abrichten,
stundenlang an einem Fließband zu stehen.
Sie sollen so leiden wie wir gelitten haben.
Warum sollten die es besser haben als wir?
Erfurt ist ein Gefängnis
und die Freiwilligkeit, hier zu wohnen, ist die dicke, unfreundliche Wärterin.
Jeder der gern hier lebt, hat es verdient
sich hier zu langweilen und zu verkümmern.
Es ist so anstrengend, hier Sinn ergeben zu müssen.
Erst wenn der Sinn abgeschafft wird, klart der Himmel auf
und alles erscheint wie es ist: veränderbar.
4
Das Wesen dieser Stadt kannst du nicht begreifen,
nur erfahren wie die Liebe, wie das Morgenrot, wie ein Autounfall.
Hör auf dich mit irgendwas zu identifizieren.
Es gibt kein festes Zentrum, keine klaren Grenzen mehr.
Singend bin ich jemand anders als schreibend.
Der Komposthaufen zwischen meinen Ohren dampft.
Organische Lieder sind wie Teebeutel:
man kann sie an die Decke werfen und beim Trocknen beobachten.
Das Ich ist keine Substanz, keine Maschine
das Ich ist eine unendliche Collage,
die sich ständig verformt, ohne Ziel,
das Ich ist nur ein Vorurteil.
Dieses Vorurteil abzuschaffen,
die Oberfläche zu durchstoßen und
unser ganzes Ausmaß zu erfahren
ist das letzte Abenteuer, das uns geblieben ist.
5
Bunten Schaum prahlend und mit bohrenden Insekten-Augen
und glühendem Frontallappen sehne ich mir
ein neues Europa herbei,
um sicher durch den Winter zu kommen.
Europa ist ein Orchester
Europa ist eine Blumenwiese
Europa ist die Software für freie Menschen
Europa ist die Hoffnung auf ein gemütliches Leben
Europa ist ein Festival
Europa ist kollektive Euphorie
Europa ist kollektives Bewusstsein
Europa ist eine Behauptung und
ich behaupte sie eines Tages
Europa existiert in mir, lässt den grünen Smaragd hinter meiner Stirn leuchten,
der mich auf Kurs hält, wenn ich hypersensibel und neutral
wie eine weiße, glänzende Kugel durch die Innenstadt rolle
auf der Suche nach Koffein und Sensationen.
Europa gehört uns und nicht mehr unseren Eltern und Großeltern!
Sie können uns Europa und die Welt nicht mehr erklären,
wir entziehen ihnen das Recht, von Europa in ihrem Sinne zu denken.
Alles, was unsere Eltern uns beigebracht haben
ist zu funktionieren in ihrer Welt der
Automaten und Dienstleister.
Das Funktionieren ist eine Falle.
Erst wenn alle Stricke gerissen sind, kommen wir zu uns!
Bis dahin liege ich herum auf leuchtenden Straßen,
ein weißes Kopfkissen, weit geöffnet wie die Sonne,
ich liege auf der warmen Erde und bin aufmerksam
wie ein Polizist im letzten Ausbildungsjahr,
der nach nicht verkehrsfähigen Fahrrädern Ausschau hält
Hellgoldnes Regenwasser fließt
in fröhlichen Strömen aus meiner großen, schweren Gießkanne,
während schwarze Hubschrauber über mir hektische Kreise ziehen,
in deren stromschnellenartigen Melodie ich mich verfange,
die mein Herzrasen unter meine Worte knüpft
zu einem Teppich aus Geräusch und Zeit,
eine warme Decke, die mein elektrisches Gehirn umwickelt.
Es gibt hier keinen konkreten Namen,
keine konkreten Gesichter mehr.
Kein roter Faden hält hier etwas zusammen,
wenn Begriffe nicht mehr greifen,
kommt die Euphorie schneller.
In Bausch und Regenbogen stürze ich vom Dach.
"Das ist aber wenig!", sagt die Reporterin
und hält mir ein Mikrophon hin und ich nicke:
"Ja, das stimmt, Minimalismus war noch nie eine Schwäche von mir."











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Mein hellgrün-blaugrau-schimmernder Faulpelz blüht in den großen, donnernden Innenstadtverkehr, meine Augen sind Teleskope, die ich in der Straßenbahn wie bunte Regenschirme zum blanken Entsetzen der Leute aufspanne und wieder zu und wieder auf und wieder zu. 

Ich fordere jeden Morgen, Herr über meine Eigenschaften zu werden, und niemand hört meine Forderungen, also stolpere ich in die üblichen Verhaltensmuster wie eine betrunkene Frau in ihren feucht-fröhlichen Fünfzigern auf der Suche nach dem vorletzten Prosecco in überfüllte Straßenbahnen stolpert. Niemand hört meine Forderungen, niemand hat Ohren für meine unsichtbaren Pläne, niemand Augen für meine unerreichbaren Trübnisse. Ich knüpfe mir einen Galgen und werfe ihn um den grauen Kummer der Welt, der wie eine brüllende, Strom und Gift spuckende Eisenbahnbrücke den langweiligen Sonnenuntergang verstellt. Ich öffne das Fenster, schnippe mit dem rechten Finger die Eisenbahnbrücke über den Horizont und der babywangenrosa Sonnenaufgang umarmt den hellblauen Kummer der Welt, ich schneide mir den Strick vom Hals und kaufe mir einen veganen Kakao. Eine Depression läuft wie ein dicker, wortkarger Karsten parallel zu mir auf der anderen Straßenseite und ich nicke ab und an freundlich rüber und stelle mir vor, dass ich ihm meinen kleinen Finger in seinen Arsch stecke und ich glaub, er kann meine Gedanken an meinem Gesicht ablesen, denn er biegt plötzlich in eine Seitengasse und ich verliere ihn aus den Augen. Die Depression ist auch nicht mehr das, was sie mal wahr.

Ich weiß genau, wie ich mir gute Gefühle und Gedanken mache. (Ich verrate Euch nicht alles.) Ich fahre Straßenbahn und schaue allen Menschen in die Augen und Brigitte wird von einem hochprozentigen Luftstoß auf meinen Schoß geschubst und ihre leuchtenden Ohrringe verheddern sich in meinen Haaren und wir lachen und fummeln uns auseinander. Ich habe Lust, mir von ihr die Welt erklären zu lassen, wenn sie mir dafür ein Bier ausgibt. Leider ist das einzige, was sie sagt, bevor sie an der nächsten Station aussteigt, dass sie gerade in zwölf Männer und vier Frauen gleichzeitig verliebt ist und dass man sich von niemandem etwas gefallen lassen muss, das man nicht seinem besten Freund zumuten würde und dass Liebe ganz einfach ist und Leute länger leben, die in kalten Jahreszeiten Geburtstag haben und dass sie, bevor sie einen letzten Prosecco in der allmorgendlichen Badewanne trinkt, irgendwem noch Geld schuldet.





Jeden Abend schaffe ich im Vollbesitz meiner Zerfahrenheit diese leblose Stadt ab, ich pumpe meine wohl-begründete Depression mit pflanzlichem Wahn auf, bis ich mein Herumhängen und Trübsalblasen nicht mehr rechtfertigen kann und setze ein aggressives Sonntagsgesicht auf, webe meine Anmaßungen in die unendliche Routine, die fast die ganze Menschheit für nichts und wieder nichts in Geiselhaft hat, ich starre meine tränenden Augen in den trüben, roten Bildschirm über dem Horizont, ich kann niemandem etwas vormachen, ich bin die pechschwarze Essenz eines wirren Verlierers, aufgeladen mit unglaubwürdiger, weil nicht zu rechtfertigender Zufriedenheit, die nichts wirklich abfedern, bloß hinauszögern kann; bald wird mir meine Idiotie auf die Füße fallen! Ich schüttel mich und schüttel mich, die schillernde Heruntergekommenheit meiner bunten Garage, in der auf rotem, weichen Teppich ein paar geschmackvolle Verlierer der Stadt über Coolness und Sozialismus diskutieren, spannt mir eine zweifelhafte Hoffnung zwischen meine Schläfen, im Fernsehen regt sich meine Mutter über den Bau eines Flüchtlingsheims in der Nachbarschaft auf, sie erinnert mich daran, wie sie sich darüber aufregt, dass ich den Abwasch noch nicht gemacht habe und der grüne Smaragd hinter meiner Stirn hält mich in Balance, während ich einbeinig an der Kreuzung stehe und darauf warte, dass das Ampelmännchen grün wird.

Jeden Tag schaffe ich Erfurt ab, indem ich mir bewusst mache, dass es mich nicht gibt, dass ich nur ein Vorurteil bin, auf das es nicht ankommt! Ich sträube mich mit aller Macht und Ohnmacht dagegen, dass man einen Nutzen hat von den Vorurteilen, die man über mich spricht. Es gibt mich nicht, denn ich bin weder mein Gehirn noch mein Schreiben noch meine Stimme noch meine Vergangenheit, ich bin nicht dieser Körper, es gibt nur diese Innenperspektive eines Organismus, dessen Vergangenheit er nur teilweise erkennen und dessen Handlungen er nur in etwa vorhersagen kann, er kennt halbwegs das in ihn installierte Programm, das ihm wie eine Persönlichkeit vorkommt: meine charakterlichen Eigenschaften haben nichts mit mir zu tun, ebensowenig meine körperlichen.








Hier liegt die schwarz-rote Wurzel meines Anarchismus vergraben: wenn wir, die wir kein Talent und keine Lust zu irgendwas haben, uns einfach aus der Welt zurückziehen auf einen Zauberberg, in einen schillernden Roman, an dessen unendlich feiner Komplexität wir uns berauschen. Schmierige, schiefe Sätze in einer gefährlich mittelmäßigen Stadt mit gefährlich banalen Problemen, gefährlich fader Hoffnungen. Solche Sätze von einem Jungen, der Angst vor Wespen und Hornissen und Bienen hat, der seine Mitbewohner beklaut und willkürlich Autoreifen zersticht. Ich stelle mir vor, wie ich die letzten Jahre mit einer schwarzen Müdigkeit in meinem Gesicht durch die Stadt laufe und schlechte Geister an meiner Seite versammel. Ich stehe an der Litfaßsäule im Zentrum meiner morgendlichen Träume, wir laufen auf weichen, aschgrauen Teppichen durch die Stadt aus Beton und Glas und Regenwasser und Stein und kahlen, schwarzen Bäumen, die plumpen Lichter am Kaufhaus geben dem Haupteingangsbereich einen Schlachthof-Charme, an dem man sich satt und hysterisch sehen kann.
In der Kathedrale dann bleibt die Zeit stehen, wird zu kaltem, blauem Marmor, in dem sich unsere schwarz-verschmierten Gesichter spiegeln, die trübe Verwirrung, von Störsignalen zusammengeführte Cyber-Subkultur. Irgendwann haben die, die das Internet unter Kontrolle haben, die Welt unter Kontrolle. Ich werde einfach solange kurbeln, bis es nicht mehr geht; bewaffnet mit unlesbaren, zarten Freunden und tiefen Büchern.


Bunten Schaum prahlend und mit bohrenden Insekten-Augen und glühendem Frontallappen sehne ich mir ein neues Europa herbei, um sicher durch den Winter zu kommen, bis ich über meine Sehnsucht stolpere und auf den Boden jener Realität aufschlage, in der ich nichts bewirken kann: in Erfurt kann man nur etwas bewirken, wenn man depressiv ist: die Fröhlichen werden behandelt wie Verrückte und die Verrückten wie Verbrecher. Aber mir bleibt keine Alternative als die Euphorie immer höher zu schrauben und sie mit so viel wie möglich Menschen zu teilen. Europa ist ein Ambiente-Musik-Orchester, Europa ist eine Blumenwiese, Europa ist die Software für dissoziierte Menschen, Europa ist die Wiege des zwielichtigen Humanismus, Europa ist Hoffnung der Menschheit auf ein gemütliches, solidarisches Leben, Europa ist ein Festival der Menschheit, Europa ist kollektive Euphorie, Europa ist ein kollektives Bewusstsein, Europa ist eine Behauptung und ich behaupte sie eines Tages!

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In fröhlicher Ermangelung eines konkreten Namens, konkreter Akteure, roter Fäden und eindeutiger Dogmatik ist die Ungreifbarkeit die Grundlage jener Ekstasen, die dieses Buch wuchern ließen. Das Pathos der Abschaffung von Erfurt ist nicht fassbar, nur erfahrbar, wie die Liebe, wie das Morgenrot, wie ein Autounfall. Wirksame Opposition ist niemals sichtbar, niemals definierbar. Wir behaupten uns als fröhliches Kompost-Netzwerk, welches nur an einer einzigen Sache arbeitet: die Dissoziierung des Abendlandes, das heißt die vollständige Abschaffung der Illusion einer festen, zentralen, übergeordneten Identität. Komposthaufenmetaphern sind wie ausgedrückte Teebeutel: man kann sie an die Decke werfen und beim Trocknen beobachten.

Das Ich ist keine Substanz, keine Maschine, keine Seele: es ist eine unendlich fragmentarische Collage, ein amorphes, instabiles Gedankenkonstrukt, an dessen Oberfläche wir uns derart gewöhnt haben, dass wir glauben, wir wüssten wer wir sind und was wir uns zutrauen können und was nicht. Dieses Konstrukt abzuschaffen, die Oberfläche zu durchstoßen und das ganze Ausmaß unserer Identität zu erfahren, ist das letzte Abenteuer, das geblieben ist in einer Gesellschaft, die sich als Maschine begreift und von selbstsicheren Menschen in Betrieb gehalten werden muss. - Romantik sagen Verliebte dazu, die Armen nennen es Kommunismus oder Faschismus, der Surrealismus ist ein alter Name dafür, die Digitale Revolution ein neuer. - Wir müssen unsere Kräfte bündeln, wir müssen einen Metamenschen schaffen aus den Bruchstücken unserer manischen Entgrenzungen! Wir dissoziieren zu einer neuen, übergeordneten Kaleidoskop-Person zusammen! Wir behaupten einen Europäischen Mythos des Einundzwanzigsten Jahrhunderts, das uns gehört und nicht mehr unseren Eltern und Großeltern! Sie können uns Europa und die Welt nicht mehr erklären, wir entziehen ihnen das Recht, von Europa in ihrem Sinne zu denken. Alles, was unsere Eltern uns beigebracht haben ist, in ihrer Welt der Automaten und Dienstleister zu funktionieren. Das Funktionieren ist eine Falle. Das Funktionieren ist ein Torpedo, abgefeuert aus Angst vorm Ertrinken. - Die Gegenwart muss zerstört werden! Die linearen Mythen wurden geschaffen, um unsere Träume zu kontrollieren! Erst wenn alle Stricke gerissen sind, kommen wir zu uns! - Das Ich ist der Feind. Das Ich will mit der Europäischen Halluzination nichts zu tun haben; wir aber, wir aufgebrachten Geister, wir Namenlosen, wir Ausgestoßenen und Nichtsnutze, wir Selbstmörder und Abgestochenen, wir Geldgierigen und Gottlosen, wir der Erlösung Bedürftigen, wir brauchen eine Utopie, um nicht über uns selbst herzufallen. Wir wollen keine depressiven Mauerblümchen sein und keine selbstironischen Traumtänzer! Wir sitzen auf dem Klo und stellen uns vor, wie wir blutigen Gulasch in die Gehirne unserer Eltern und Lehrer und Vorgesetzten scheißen und die Sonne geht unter und ich schaue von Besessenheit verzerrt in die Zimmerecke und in dem Moment, in dem mir klar wird, was meine Eltern bei diesen Worten denken würden, explodiert in Kabul eine Bombe und zerfetzt süße Jungs und Mädchen und ich liege auf einer weichen Hängematte über dem Geraufer, der Stellvertretende Ortsteilbürgermeister paddelt unter mir durch und wir grüßen uns freundlich. Ein lauer Sommerabend, der viel verspricht, aber nicht viel hält: gut so, Erfurt hat es nicht verdient, dass hier etwas passiert - Erfurt ist ein Gefängnis und die Freiwilligkeit, hier zu wohnen, ist die dicke, unfreundliche Wärterin. Jeder der gern hier lebt, hat es verdient sich hier zu langweilen und zu verkümmern. Es ist so anstrengend, hier Sinn ergeben zu müssen. Erst wenn der Sinn abgeschafft wird, klart der Himmel auf und alles erscheint wie es ist: ewig wandelbar.

Warum behauptet sich Europa nicht grundsätzlich neu? Das Brüssler Europa ist ein netter Versuch einiger von Kriegsangst und Marktgläubigkeit gedrückter Bürokraten gewesen, eine heile Welt zu schaffen und ich bin einer ihrer Söhne, einer ihrer freien, ungeduldigen, zukunftseuphorischen Geister, die großschnäuzig ihren wahnsinnigen Glauben an die Menschheit in kleine, unendliche Notizbücher verstauen. Jeden Abend schaffe ich Erfurt ab, jeden Abend vergewissere ich mich meiner absoluten Abwesenheit in dieser Welt, ich bin gestriezt von absurder Dringlichkeit, die die rote Glühbirne neben mir platzen lassen könnte. Wer behauptet Europa neu? Von welchen Idealen soll derjenige, der uns Europa behauptet, erleuchtet sein? Oder lassen wir das mit Europa? Denken wir einfach wieder im völkischen Rahmen? Wollen wir wieder Hirten und Schafe sein? Ein Gedanke hält meine Hoffnung an eine grundlegende Neuordnung der Welt zusammen wie fleischfarbne Knetmasse: es ist möglich, dass wir uns alle darauf einigen, alles in Ruhe und mit großer Sorgfalt und Liebe neu zu gestalten, es ist möglich, dass sich alle Menschen beruhigen und synchronisieren. Europa ist eine Behauptung, nicht nur ein Markt oder Staatenbund. Europa ist eine Behauptung, eine fröhliche Behauptung! Wenn man nicht fröhlich sein kann, kann man kein Europäer sein. Wir fröhlichen Europäer müssen Europa gegen die griesgrämigen Kleingärtner behaupten! Deshalb müssen wir unsere Heimatstädte allesamt abschaffen! Wir fröhlichen Europäer erfinden in kollektiver Euphorie ein neues Ideal, das die Grenzen der Stadt und der Nation ebenso auflöst wie die Grenze zwischen Ich und Körper und Außenwelt und Innenwelt. Alles ist bloß Welt und man kann sie gestalten wie man will. Europa ist das blaue Zelt, unter dem wir den ganzen Sommer dissoziieren können auf unbequemen Matratzen und an kühlen, grünen Flußufern und in engen, stickigen Straßenbahnen und in nach Teppich und Kaffee riechenden Büros, in aufgeblasenen, tristen Bürokratien und auf gemütlichen Sofas mit gemütlichen Jungs und hysterischen Mädchen. Europa ist eine Behauptung und ich behaupte sie, indem ich meine Heimatstadt wie mein Ichgefühl auflösen will, damit mir das ganze Elend der Welt vor Augen schweben kann. Wir müssen uns alle beruhigen, so schnell wie möglich dafür sorgen, dass es in Europa für alle gemütlich wird und jeder Lust und Liebe gewinnt, sich darum zu kümmern, dass es in der ganzen Welt gemütlich wird. Knapp 500 Euro im Monat gebe ich aus, wenn ich jeden Abend Europa behaupte, Geld das mir Europa gibt: mein Europa: es existiert in mir, es lässt den grünen Smaragd hinter meiner Stirn leuchten, der mich auf Kurs hält, wenn ich hypersensibel und neutral wie eine weiße, glänzende Kugel durch die Innenstadt rolle auf der Suche nach Koffein und Sensationen. Viele Leute sehen so aus, als hätten sie Lust, mich an einer Fließbandarbeit leiden zu sehen. Manchmal grüße ich sie mit einem wabbernden Pudding-Grinsen, manchmal schrecke ich nur ängstlich zurück und stell mir vor, wie ich ein Haus anzünde und mich in Lachen auflöse.






"Es geht um eine riesige Summe!", ruft der Nachrichtensprecher. Gegen Franz Beckenbauer wird ermittelt und er schlendert gemütlich zum 4-Gänge-Menü einer Hotelparty und tut so, als wüsste er von nichts - was für ein toller Auftritt! Wenn man reich und mächtig ist, macht man immer eine gute Figur. Er hat sich immer großartig verkauft und selbst dieser lächerliche Korruptionsskandal wird ihm nicht die Kaiserkrone kosten. Eines Tages werde ich so reich und mächtig sein wie Franz Beckenbauer. Bis dahin liege ich herum wie die leuchtenden Straßen, ein weißes Kopfkissen, weit geöffnet wie die Sonne, ich liege auf der warmen Erde und bin aufmerksam wie ein Polizist im letzten Ausbildungsjahr, der nach nicht verkehrsfähigen Fahrrädern Ausschau hält, ich stehe am Anger und blinke rotgelbgrün auf der Suche nach dem Satzanfang, Lust auf frische Brötchen und Kaffee, der dich drei Tage wach macht, wenn du vorher einen Liter Grapefruitsaft getrunken hast?



Indem ich schreibe, können mich alle sehen, indem ich mich vorlese, können mich alle hören. Ich bin das Zentrum der Aufmerksamkeit. WAU!! Alle wollen etwas von mir. WAU!! Ich grinse und lese vor: "Wenn ihr mich grinsen sehen wollt, dann hört mir zu." Die Musik ist laut und der Kater miauzt, weil er ein verwöhnter kleiner Fucker ist, WAU! genau wie ich. Die Musik kippt gleich um, mein Brustkorb brennt, es riecht nach Blumen und der Kater miaut, weil er im dunklen Flur allein ist, WAU! niemand will mit ihm spielen, I know that feel, bro! Die Musik kippt wirklich um, WAU! und die Aufmerksamkeit der Leute bleibt an mir kleben, sie schauen einfach nicht weg! Ich geb es ja schon zu, ihr habt mich soweit und ich lese wieder vor: "Ich verwandel mich in eine Taube und fliege aus dem Fenster, weil die Musik endgültig umkippt, seht sie umkippen! WAU!" Hier verliert alles so gründlich seine Bedeutung, dass man nur noch lachen kann! Wenn ihr mich lachen sehen wollt, dann parkt Eure Autos in meinen Träumen, betet die Brüder an, die ihr nie hattet, klappt vor Überempfindlichkeit in der Einkaufspassage zusammen. WAU! Indem ich vorlese, bin ich jemand anders als der, der geschrieben hat. WAU! WAUWAU! Ich muss weg hier, meine Nichtigkeit macht mir schöne Augen und vielleicht will sie wieder ein paar Drinks ausgeben, ich weiß nicht ob ich Lust habe, meine Freunde zu sehen, die Blumen in der Vase sprechen eine eindeutige Sprache: vergeudete Dahlien, enttäuschte Sonnenblumen und Tulpen, gelangweilte Nelken der Vorahnung. Ich klatzsche meine Hände überm Kopf zusammen, das einzige was ich habe, ist vielleicht nur... meine Stimme. WAU!WAU!





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Es ist davon abzuraten, Cannabis zu benutzen, um Depressionen loszuwerden. Es ist auch nicht ratsam, morgens Kaffee zu trinken, um wach zu werden. Es ist auch nicht ratsam, sich zu verlieben oder Free Jazz zu mögen. Ratsam ist, ein kluger, bescheidener, demütiger Arbeiter zu sein, strikt die Gesetze zu befolgen und sich immer die Schuhe auszuziehen, wenn man zu Besuch ist und Zähneputzen niemals vergessen und nie etwas riskieren, denn es steht sehr viel auf dem Spiel! Das sind die Werte, in die der Gesellschaftsvertrag getränkt ist, den wir mit unserem ersten Schrei im Krankenhaus unterzeichnet haben. Cannabis ist eine Pflanze, die langsam und wirr macht, sie weicht die Grenzen deiner Persönlichkeit ein. Wenn du nicht depressiv bist, will sie dich manisch machen, wenn du übermäßig viel rauchst und dann plötzlich an nix mehr rankommst, weil die Stadt grad trocken oder dein Konto leer ist oder du einfach keine Lust mehr darauf hast, weil du mit der Überempfindlichkeit nichts anfangen kannst oder glaubst, abzustumpfen, kann es passieren dass du ein paar Tage durchhängst. Wir befinden uns im Dampfmaschinenzeitalter und müssen unsere Kinder darauf abrichten, stundenlang an einem Fließband zu stehen.

Manchmal lädt Cannabis bloß Nebensächlichkeiten oder Langweiligkeiten mit Brisanz auf, statt wie oft behauptet wird, das allgemeine Erkenntnisvermögen zu steigern. Manchmal glauben wir tief in einer wahren Empfindung zu verschwinden, manchmal gehen wir nur einem sentimentalen Klischee auf den Leim.

Ich kenne so viele, die Gras nicht vertragen, besonders jüngere, die den ganzen Tag nichts machen und Trap hören und sich in der Nase popeln und ein Selfie davon machen und bei Instagram hochladen, gute, wunderbar entspannte, selbstreflektierte, sexy Jungs, die einfach ein bisschen in der Hängematte des Staates baumeln wollen und damit den anerzogenen Leistungsdruck aus den Knochen sich meditieren, womit sich im Frühling, wenn die alten Kräfte wiederhergestellt sind, neue Möglichkeiten eröffnen. "You can never hold back spring", singt Tom Waits, hellgoldnes Regenwasser fließt in fröhlichen Strömen aus meiner großen, schweren Gießkanne, während schwarze Hubschrauber über mir ihre hektischen Kreise ziehen, in deren stromschnellenartigen Melodie ich mich verfange, die mein Herzrasen unter diese Worte knüpft wie unter einen Teppich aus Geräusch und Zeit, eine warme Decke, die mein elektrisches Gehirn umwickelt. - "Das ist aber wenig!", sagt die Reporterin und hält mir ein Mikrophon hin: "Ja, das stimmt, Minimalismus war noch nie eine Schwäche von mir."


In letzter Zeit sehe ich rot-leuchtende Umrisse von wütend-schreienden Gesichtern in der Dunkelheit aufblitzen, manchmal erschrecke ich vor ihnen. Ich gehöre ganz sicher zu denen, die Gras nicht vertragen. Ich liebe es, umzukippen, ich liebe es in Bausch und Regenbogen vom Balkon zu stürzen, nur um die eilig zur Hilfe Nahenden mit einem kräftigen Händedruck zu begrüßen. "Danke sehr! Danke sehr!" - Yeap. Yeap. Ich bin ein harter Typ, ich bin reich und mächtig und unglaublich hart, ich bin der Kapitalismus. Mein Mittelfinger kitzelt dir, altes Europa, schamlos an deinem Arschloch herum, so wie ich meinen Cousin früher angeschwult habe, wenn er seine sozialistische Gesinnung hervorblicken ließ, also wenn er sich ernst genommen hat: es hätte nicht bei sexueller Nötigung bleiben sollen, ich hätte ihn wirklich mal zur Strafe für seine Weichheit ficken sollen, sein Widerwille wäre genau so künstlich und halb spaßig wie seine läppischen Schläge, mit denen er mich von sich losscheuchte, als ich ihm an seinem Arsch herumfummelte. "Wir hörten Jazz Musik und drehten an all unseren Knöpfen.", flüsterte ich an die Schlafzimmerdecke starrend und er liegt neben mir und lacht. Yeap, Europa ist definitiv reif dafür.